Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

Ich klage die List an.
Sie erschuf uns Menschen, die Tiere und Pflanzen zum Leiden auf Erden.
Genunea Musculus

Diese Erzählung über den Besuch eines guten Freundes entstand Ende der siebziger Jahre und ist Bestandteil des 1986 im Selbstverlag herausgegebenen Buches „Heinz - Gesichter und Gedanken“ und wurde 2010 auch als Online-Buch bei „BookRix“veröffentlicht.

Genunea Musculus

Online-Buch · E-Book

Genunea Musculus:
Der Koffer

(publiziert bei · published by
 „BookRix“)
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Der Koffer

„Nein, nein, nein, dreimal nein - ich kann Ihren Auftrag nicht annehmen!“ „Frau Musculus, Sie sind die einzige Dolmetscherin, die uns aus dieser peinlichen Situation heraushelfen kann.“, erklärte mir der Sekretär des Verbandes Bildender Künstler flehend am Telefon. „Der Maler aus Bukarest bekam nach langer Wartezeit die Erlaubnis, gerade jetzt, vor Weihnachten, seine Studienreise hierher anzutreten. Bitte helfen Sie uns; er bleibt nur fünf Tage in Berlin, dann fährt er allein weiter nach Dresden, Weimar und Erfurt.“ „Unmöglich“, erwiderte ich energisch, „bis gestern erst musste ich mit vier Schriftstellern täglich sechzehn Stunden arbeiten. Ich bin völlig erschöpft.“ „Gut“, meinte der Sekretär, „dann seien Sie doch bitte so freundlich und kommen Sie morgen früh zu uns, für nur eine Stunde, um dem Gast das Nötigste zu erklären, er spricht kein Wort Deutsch... bitte.“ „Einverstanden“, erwiderte ich, „aber nicht früh, sondern gegen Mittag, damit ich ausschlafen kann., und schicken Sie mir bitte den Wagen.“

Am nächsten Tag gegen zwölf Uhr betrat ich das dunkle Arbeitszimmer des Verbandes. In der Ecke, auf einem Stuhl, saß der rumänische Maler, unser Gast. Höflich, aber eingeschüchtert stand er auf, nahm meine Hände, küsste sie und murmelte seinen Namen.

Ich konnte ihn jetzt etwas besser betrachten - etwa fünfzig Jahre alt, dunkles Haar und dunkle Augen, der Gesichtsausdruck sehr freundlich, aber hilflos und befangen. Zu meinem Entsetzen fiel mir auf, dass er einen hellblauen Trainingsanzug trug und sein abgenutzter, dunkelblauer Mantel mit seiner hellbraunen Schafspelzmütze auf einem anderen Stuhl lag. Als ich ihm meine Referenz erwies mit dem stereotypen Spruch „Seien Sie herzlichst willkommen hier bei uns in der DDR“, begann er, zufrieden zu schmunzeln. Ob ihm meine Diktion imponierte oder er froh war, dass er endlich seine Muttersprache hörte, habe ich nicht ergründet. Der Verbandssekretär gab mir das vorgedruckte Ablaufprogramm mit den Sehenswürdigkeiten in Ost-Berlin und den übrigen Städten, den Fahrtmöglichkeiten und Übernachtungen, das ich dem Gast überreichte.

Dann öffnete er den Geldschrank und überreichte dem Maler 1200 Mark für die Unkosten seines Aufenthaltes in der DDR. Die vielen Geldscheine versetzten ihn in solche Panik, dass er deren Empfang nur mit zitternder Hand quittieren konnte. Er ließ das ganze Geld auf dem Tisch und sah mich hilfesuchend an. „Es gehört Ihnen - Verzeihung, ich habe Ihren Namen nicht behalten, Herr...“ „Teodoreanu“, flüsterte er. „Teodoreanu?! Sind Sie etwa mit dem großen Schriftsteller Ionel Teodoreanu verwandt?“, fragte ich ihn. „Sein Sohn“, antwortete er, noch leiser als bisher. Voller Enthusiasmus versuchte ich, dem Sekretär klarzumachen, welche Persönlichkeit bei uns ist. Leider imponierte es ihm nicht - zu sehr war er voreingenommen, wohl wegen seiner Kleidung und seines Verhaltens. Das Geld lag noch immer auf dem Tisch. „Herr Teodoreanu“, bat ich ihn, „stecken Sie es doch bitte ein.“ Er nahm die einzelnen Scheine, knüllte sie zusammen und stopfte sie in seine Jackett-, Mantel- und Hosentaschen. „Haben Sie kein Portemonnaie?“ „Nein, soetwas habe ich noch nie besessen. Möchten Sie aber bitte nicht das Geld zu sich nehmen, ich kann damit garnicht umgehen“, bat er mich ratlos. Ich erfüllte ihm seinen Wunsch.

Unter dem Tisch zog er einen Pappkoffer hervor, der mit einer gut verknoteten Schnur verschlossen war.

Das Auto wartete im Hof des Gebäudes auf uns. Der selbstbewusste Chauffeur im neuen, dunklen Ledermantel nahm kaum Notiz von uns und weigerte sich, den Koffer des Gastes in seinem Wagen zu verstauen, sodass ich ihn schließlich energisch hierzu auffordern musste.

„Verzeihung“, begann Herr Teodoreanu, „Ihren Namen habe ich auch nicht genau mitbekommen.“ „Genunea Musculus“, antwortete ich. „Wie schön, so musikalisch!“ Seine Stimme wurde ruhiger und er blickte mich voller Sympathie an. „Ja“, erwiderte ich, „mein Mann ist auch Maler und sieht Ihnen im ganzen Wesen sehr ähnlich."“"„Sie meinen, er ist auch so trottelig wie ich?“ „Genauso trottelig wie Sie.“ Ich begann zu lachen. „Aber gerade deswegen liebe ich meinen Heinz auch sehr.“ „Das ist das Schönste, was ich gehört habe, und es von Ihnen zu hören, ist das schönste Kompliment, das mir bisher gemacht wurde! Sie sind eine wunderbare Frau!“ Ein Glück, dass der Fahrer unsere Konversation nicht verstand; er hätte sonst vor Verwunderung einen Verkehrsunfall bauen können...

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Herr Teodoreanu. Sie wohnen diese fünf Tage bei uns. Mein Mann ist sehr gastfreundlich, und Sie beide werden sich gut verstehen. Außerdem ersparen Sie sich das Geld für en Hotelzimmer. Sie haben doch sicher eine lange Wunschliste von Ihrer Familie mitbekommen. Ich rufe den Verband an und mache die Zimmerbestellung rückgängig. „Sie sind ein Engel, Frau Genunea. So ein Glück, Sie gefunden zu haben, kann nur so ein Trottel wie ich haben!“ „Das Gleiche sagt auch mein Heinz immer“, bestätigte ich ihm.

„Aber erzählen Sie mir aus Ihrem sicher interessanten Leben und von Ihrer Reise. Wer hat Sie vom Bahnhof abgeholt? Planmäßig sollte Ihr Zug um fünf Uhr früh am Ostbahnhof ankommen.“ „Ich hatte Glück, der Zug hatte zwei Stunden Verspätung. Trotzdem kam ich in der Eile und in meiner Vergesslichkeit garnicht dazu, mich umzuziehen und blieb in diesem Trainingsanzug. Um zu sparen, bezahlt unser rumänischer Verband seinen Künstlern nur Fahrkarten zweiter Klasse. Bei dem Gedanken aber, dass ich das Glück habe, nach Deutschland zu kommen, Museen zu besuchen und die Kultur dieses Volkes zu genießen, zog ich meinen einzigen guten Anzug aus und schlief ganz fest bis Berlin in meinem Trainingsanzug. Zu meinem Erstaunen empfing mich am Ostbahnhof niemand. Ohne Geld, ohne Orientierung stand ich am Bahnsteig und wartete. In der Hand hielt ich meine Schafspelzmütze, da mein Kopf vor Sorge erhitzt war; der Koffer stand an meinen Beinen. Ich wartete aber nicht lange. Den flüchtigen Menschen, die zu ihrer Arbeit sausten, erweckte ich wahrscheinlich den Mitleid, denn viele warfen mir Münzen in meine Nütze. Die wurde allmählich schwer, niemand vom Verband erschien, und ich trottelte zum Ausgang. Voller Freude entdeckte ich ein Bahnhofsrestaurant, ‘Mitropa”. Das Bier schmeckte so gut, dass ich mein ganzes erworbenes Almosengeld vertrank und kein Fahrgeld für die U-Bahn mehr besaß. Erneut ging ich auf den Bahnsteig, hielt meine Mütze in der Hand, machte eine noch betroffenere Miene als vorher, und die Mütze füllte sich wie gehabt. Für drei Biere und zwei Fahrscheine reichte es. Auf einem Zettel zeigte ich einem Passanten die Adresse des Verbandes, und er wies mir den genauen Weg mit der U-Bahn dorthin, wo ich dann seit neun Uhr auf Sie wartete.“

Wir kamen vor unserer Wohnung an. Heinz hörte unser Läuten, und wie gewöhnlich stand er im Treppenhaus an der Balustrade, um mich zu empfangen.

„Wen schleppst Du mir denn da an - so einen Penner wie mich?!“, rief Heinz erstaunt, als wir den Fahrstuhl verließen, und schon umarmten sich beide, als ob sie sich schon lange kannten. „Er wird fünf Tage bei uns wohnen, Dein Kollege aus Bukarest, und ich hoffe, Ihr werdet Euch gut verstehen.“, sagte ich zu Heinz. "„nur fünf Tage? Wir haben sicher mehr zu diskutieren. Aber bitte mach’ uns ein gutes Mittagessen und hole zur Begrüßung unser sozialistisches Elixier der freischaffenden Künstler - eine große Flasche Wodka.“

Wir schlossen Bruderschaft, und Afane Teodoreanu taute mehr und mehr auf vor Glück.

Nach dem Essen begann für mich die schwerste Arbeit. Das Fluidum, das die beiden verband, führte zu philosophischen Ideen über Kunst, Religionen und die Welt. Solche Diskussionen hielten bis spät in die Nacht an und ich hatte Freude, aber auch Schwierigkeiten, alles immer sinngemäß zu übersetzen.

An den nächsten Tagen schickte ich meine beiden Originale allein in die Museen, um den großen Meistern ihren offiziellen Besuch abzustatten. Eines Abends kam Afane betrübt nach Hause, weil die Bilder seines Lieblingsmalers Goya gerade zu einer Ausstellung nach Tokio verliehen waren. So begnügte er sich mit den Zeichnungen seines neuen Freundes Heinz Musculus, den er wegen seiner Aussagen und Botschaften in der Malerei mit Goya verglich.

Nach einigen Tagen bat ich Afane, mir den „Bestellschein“ seiner Familie zu geben, damit wir das Gewünschte einkaufen konnten. Außer drei Paaren Damenschuhen für seine Mutter, Frau und Tochter wünschten sich die Damen jede Menge BHs und für ihren Gaumen Linsensuppen-Beutel. Von diesen Artikel hatten die sozialistischen Befreier die rumänische Bevölkerung befreit. Über das Manko an BHs war ich nicht erstaunt, da jetzt die befreiten Brüste ihren genossen lebhaft entgegenschaukeln durften; ohne Linseneintopf kann man das Leben auch einigermaßen genießen - aber dass es kein Schuhwerk gab, war wirklich traurig, kann man doch die „Kampfdemonstrationen“ schlecht barfuß marschieren.

Afane und ich, wir gingen ins „Centrum Warenhaus“ auf dem Alexanderplatz. Das Schuhangebot schien ihn nicht zu befriedigen, da das Leder hart und spröde war. BHs und Linseneintopfsuppen hingegen kauften wir jede Menge. Ich bat ihn, da noch reichlich Geld vorhanden war, auch für sich selbst etwas Praktisches zu kaufen. Für mich brauche ich nichts, von Eleganz halte ich nicht viel. Aber Lemsi ist meine große Liebe. Er ist ein weißer Pudel. Für ihn brauche ich Medikamente und kann mein Geld nicht verschwenden.“...

...doch plötzlich erblickte er im Regal einen großen Schweinslederkoffer. „Den möchte ich haben. Er erinnert mich an meine Kindheit; meine Familie besaß nur solche Koffer. Er ist wunderschön!“ Der Preis war genauso groß wie der schwere Koffer, und ich bemühte mich, ihm klarzumachen, dass er sowieso nicht viel reise und dass das große Ding in der heutigen Zeit überflüssig sei. Nachdem er aber von mir erfuhr, dass das Geld auch für Lemsi reichte, ließ er sich von mir nicht beeinflussen und kaufte den monströsen Koffer. Er würde in seiner Bibliothek wie eine Nippfigur stehen und sei für ihn wie ein Kunstobjekt.

Dann begaben wir uns in die Chausseestraße, in der sich eine Tier-Apotheke befand. „Der Herr braucht Arzneien für seinen weißen Pudel, der drei Jahre alt ist“, übersetzte ich. „Was fehlt ihm denn?“ „Garnichts, er ist kerngesund“, antwortete Afane strahlend. „Dann braucht er keine Medikamente“, meinte der Apotheker. „Doch“, begann Afane jetzt mit Pathos zu erläutern, „ich möchte viele Tabletten, Spritzen und Salben für die eventuellen zukünftigen Krankheiten kaufen, da es in Bukarest keine Apotheke für Tiere gibt.“ Verblüfft holte der gute Apotheker die verschiedensten Heilmittel, die in dem Koffer kaum Platz fanden zwischen den unzähligen BHs und Linsensuppen.

Abends kamen wir müde nach Hause. Köstlich amüsierte sich Heinz über unsere Einkäufe; Afane aber begann, nachdenklich zu werden. „Heinz, der Koffer ist eine Pracht, aber wie kann ich mich im Abteil zweiter Klasse, wenn ich nach Bukarest zurückfahre, vor Dieben schützen? Ich habe einen gesegneten Schlaf, und während ich von Euch, meine Lieben, träume, kann der Koffer verschwinden." „Du hast vollkommen recht“, antwortete Heinz lächelnd, „aber meine geniale Idee wird Dich vor diesem Alptraum bewahren. Du bindest eine fast unsichtbare Schnur an die Griffe beider Koffer. In dem Augenblick, wenn ein Halunke den einen Koffer anfasst, fällt der andere auf Deinen Kopf - Du wachst auf und erwischst den Dieb.“ „Dass man Dich als ‘Goya der DDR’ bezeichnet, leuchtet mir vollkommen ein, aber dass Du auch als perfekter Kriminalist fungieren kannst, ist wirklich phantastisch!“

Der Abschied voneinander war für uns drei sehr schwer. Trotz der Entfernung von 1270 Kilometern Luftlinie zwischen Berlin und Bukarest versprachen wir uns, Freunde zu bleiben.

Nach drei Wochen erhielten wir einen langen Brief aus Bukarest. Afane bedankte sich ganz innig für unsere Gastfreundschaft, für die schönen Abende, die er in eifrigen Diskussionen mit Heinz verbracht hatte, für meine Geduld und mein Verständnis Künstlern gegenüber.

In Dresden, Erfurt und Weimar war er - leider allein - in Bewunderung aufgegangen, in der Gemäldegalerie, der Porzellanmanufaktur, im Goethe und im Schiller-Haus...

Angefüllt mit Kunst, Kultur und den schönsten Erinnerungen hatte er Dresden verlassen, um heimzufahren. Er hatte mit der bewussten Schnur seine Koffer aneinandergebunden, sich auf seinen Platz zweiter Klasse gesetzt und sich ruhig und zufrieden in Morpheus Arme schaukeln lassen.

Nach vielen Fahrtstunden war er mit Getöse aus seinen Träumen geweckt worden. In einer schnellen Kurve war ihm sein Pappkartonkoffer auf die Nase gefallen. „Ich hab’ Dich erwischt, Du Dieb, gib mir meinen Koffer!“, hatte er geschrieen. Das Abteil aber war leer, der Schweinslederkoffer existierte nicht mehr. Der Zug war auf dem Weg durch Ungarn...

Ohne Koffer, ohne Arzneien, ohne BHs und ohne Linsensuppe war Afane in Bukarest angekommen - aber mit seinen Erinnerungen und einer dicken, roten Nase.

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