Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

über Menschen und Tiere werde ich
Euch erzählen, die mir als
Persönlichkeiten begegnet sind...
Genunea Musculus

Episode aus dem Roman „Genunea. Czerno­witz liegt nicht nur in der Buko­wina“

Czernowitz 1943

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Czerno­witz war inzwischen durch deutsch-rumänische Truppen 1941 zurückerobert worden und wie ein Spielball wieder den Rumänen zugefallen.

Das menschenleere weiße Haus empfing mit dem noch lebenden Hozu die heimkehrende Familie. Dabei gab er auf dem grünen Teppich im Salon vor Freude und Aufregung seine unschuldige, gute Seele auf. Lilly rutschte aus, stürzte und brach sich dabei das Handgelenk. Poussi war unterdessen wohl sicher in einem sowjetischen Magen gelandet, Nachbar Zoref, der gute Freund von Nunica, war als „Kapitalist“ beschimpft und nach Sibirien deportiert worden. Reicheren Juden war seinerzeit die Flucht nach Rumänien. Palästina oder den USA geglückt, da sie sich bei den Sowjets freikaufen konnten. Ein sowjetischer General hatte das Jahr über im weißen Haus der Familie Dimitrovici gewohnt, den Rosenpark, den wilden Garten und den Komfort genossen. Bobbys Zimmer hatte als Büro gedient. An den Wänden hingen strategische Karten und in seiner Bibliothek befanden sich außer dem „Kapital“ und aktuellen Geschichtsbüchern wertvolle russische Belletristik, die Bobby schon lesen konnte. Besonders begeisterte ihn die Lehre von Karl Marx, die ihn, zum Entsetzen seiner Eltern, in einen überzeugten Anhänger seiner Ideen verwandelten. Polizeiliche Hausdurchsuchungen belästigten die Familie öfters. Das gefundene marxistische Material in Bobbys Zimmer wurde von Silviu zu seiner Verteidigung zu „Dokumentationsmaterial“ erklärt, und so wurden Bobby diese Bücher nicht weggenommen und er bliebt vor Schlimmeren verschont.

Der Schulunterricht hingegen langweilte Bobby, und er absolvierte die zehnte und elfte Klasse in einem Jahr. Schrecklich verstimmt fand Lilly ihre beiden Flügel vor. Sie war aber glücklich, dass sie überhaupt noch in ihrem runden Zimmer standen. Oft konnte sie ihre Lieblinge nicht mehr betasten; der gebrochene Arm machte ihr zu schaffen. Drei neue Mitglieder hatten den Haushalt vergrößert. Marusia, die Köchin, ihre Tochter Sofica, die als Stubenmädchen eingestellt war, und Rolfi, ein weißer Spitz. Er hatte vor der russischen Besetzung einem Mieter gehört, der spurlos verschwunden war. Der Hunde hatte die Familie Dimitrovici jedoch sofort wiedererkannt und sich diplomatisch ins Haus eingeschmuggelt. Sein drolliges Aussehen versetzte alle in Staunen und Lachen - eine Parodie der Natur - drei ungleichmäßige Punkte verzierten seinen Kopf: ein großes Auge. ein kleines Auge und eine viereckige, schwarze Schnauze wurden von zwei weißen, abstehenden Ohren überwacht. Sofort hofierte er auch Lilly und gewann ihr Herz. Sie richtete ihm sein Lager in ihrem Bett unter dem Plumeau am Fußende ein. Die widrigen Kriegsumstände wie Kälte und Hunger hatten bei ihm ihre Spuren hinterlassen: eine schwache Blase. Jede Nacht musste er gegen drei Uhr austreten. Vorsichtig schlich er zu Lilly und berührte ihre schlafende Nase mit seiner feuchten Schnauze. „Silviu, sei bitte so lieb, Rolfi muss in den Hof.“, weckte sie ihren Mann. „Zum Teufel mit diesem Köter! Jede Nacht dasselbe Theater!“, murmelte Silviu, trottete dann durch das Schlafzimmer, das Speisezimmer und den langen Korridor in die kalte Veranda und ließ Rolfi hinaus. „Bleib bitte, bis er fertig ist. damit er nicht gleich wieder zu mir ins warme Bett kommt!“, rief Lilly ihm noch nach. Rolfis schwache Blasenmuskulatur ließ aber lange auf sich warten, und die Entleerungsprozedur verzögerte sich erheblich. Silviu begann zu frieren und kehrte wütend ins bett zurück. Nach ungefähr dreißig Minuten begann Rolfi zu bellen. „Lass ihn doch bitte hinein“, bat Lilly, „es ist doch so kalt und er kann sich eine Lungenentzündung holen. Silviu aber verspürte nicht das geringste Interesse am Gesundheitszustand von Rolfi und begann zu schnarchen. Rolfi wurde ungeduldig. Er lief zur zweiten Veranda, genau an das Fenster, hinter dem sich sein gutes Frauchen befand und begann zu heulen... so stark zu heulen, dass die Nachbarn erwachten. Silviu sprang aus den Federn, überquerte das Schlafzimmer, das Speisezimmer, den langen Korridor, die kalte Veranda, öffnete die Tür und empfing den Störenfried mit einem Fußtritt in den Allerwertesten. Weinend sprang das arme Tier auf Lillys Bett, flehte um ihr Verständnis und sichte ihre Körperwärme. „Schau Lilica, auf die Dauer kann ich das nicht mehr ertragen. Rolfi ist ein Hund, aber ich nur ein Generaldirektor, der früh ins Büro muss.“

Die Stadt verblasste, das lebhafte Völkercolorit erlosch. Zwar zogen Rumänen aus dem Süden des Landes neu hinzu, die das verlassene Erbe in Besitz nahmen und sich dem Handel widmeten. Ihnen fehlten jedoch die commerziellen Erfahrungen, die diplomatische Art, ihre Ware anzubieten, Künste, die die jüdischen Bewohner so gut beherrscht hatten. Die meisten Juden hatte man in Arbeitslager nach Transnistrien deportiert, andere sichten Schutz bei angesehenen rumänischen Familien, die für die armen Verfolgten garantierten, und so nahmen auch Silviu und Lilly sechs jüdische Familien unter ihr Protektorat.

Fritz, der junge Bruder von Willy, musste sein junges Leben dreißig Kilometer vor Moskau lassen. „Wieder ein Opfer für diesen grausamen Krieg!“, dachte Nuni, und fühlte sich glücklich, dass sie wenigstens Willy davor schützen konnte. Er aber zeigte Nervosität, die sich täglich steigerte und im Verbrauch von bis zu 60 Zigaretten am Tage deutlich wurde. Absurde Zänke entstanden. Immer kreisten sie um dasselbe Thema: Die Verspätung. Nuni wurde Willys Blitzableiter. Vor jedem Kino-, Theater- oder Freundesbesuch posierte Willy in Angreiferstellung vor Nuni, die sich zum Weggehen vorbereitete, „Mutti“, begann er, „wir werden deinetwegen verspäten. Du stehst viel zu lange vor dem Spiegel. Du schminkst Dich, puderst und kämmst Dich zu langsam. Du bist träge...“. Seine Stimme steigerte sich, und zum Schluss entglitten ihm immer wieder dieselben Worte: „Du bist ja leider keine hundertprozentiger Deutsche. Deine rumänische, schludrige Art kannst Du leider nicht verbergen.“ „Beruhige Dich, lieber Vati“, begann Nuni, „Du hast ja in allem recht. Aber sag' mir bitte - haben wir uns schon einmal meinetwegen verspätet? Wir leben seit mehr als einem Jahr zusammen und sind überall pünktlich erschienen, oder?“ „Das ist wahr. Hätte ich Dir aber nicht ständig diese Skandäle gemacht, hätten wir uns verspätet.“ „Lass bitte das 'hätten' und schaue den Tatsachen ins Gesicht“, antwortete Nuni. Willy begann zu zittern, seine Zigarette fiel aus der Hand und er musste sich setzen. Mit ihren Händen strich Nuni sanft über seinen Kopf und bat ihn um Verzeihung. Er beruhigte sich, schaute Nuni verwundert an, und dann gingen sie beide aus dem Haus. Wenn sie abends heimkehrten, begann Willy zu weinen. „Mutti, ich bin ja so kaputt. Ich kann mich nicht mehr beherrschen, und Du, Du bist mir gegenüber so groß, so verständnisvoll. Wie habe ich Dich bloß verdient? Du verstehst mich, ich beleidige Dich, und Du bittest mich auch noch Verzeihung.“ „Ja“, entgegnete Nuni, „ich kann Dich verstehen. Verständnis ist ein großes Gebot. Du hast viel durchgemacht, bist mit anderen Erwartungen hierher gekommen, wurdest enttäuscht, musst täglich so viel dazulernen hast mir zuliebe die erste Zeit in eine Bruchbude gehaust, bevor wie in diesen komfortablen Stall mit Kaninchen als Nachbarn umziehen konnten und hast Deinen lieben und einzigen Bruder verloren. Wie soll ich das alles nicht verstehen? Wir müssen aber zu einem Arzt. Vielleicht verschreibt er Dir etwas zur Beruhigung.“ Willy nahm diesen Rat aber nicht an. Seine Nervenzusammenbrüche entwickelten sich katastrophal. Heroisch ertrug Nuni diesen qualvollen Zustand. Der Zankapfel blieb immer: Die Verspätung - die aber nie eintraf. Abends noch Reue und Versöhnung, begann am nächsten Tag alles von vorn... Manchmal spielte sie mit dem Gedanken, sich scheiden zu lassen. Aber recht bald war ihr klar, dass ihr nervenkranker Willy nie eine verständnisvollere Frau als sie bekommen würde. An Ihr eigenes Glück wollte daran nicht denken.

In den Schulferien verreisten beide meistens zu Nunis Tante Erna nach Wien. Bei ihr verbarg Willy seine ausgeprägte persönliche Note, und Nuni konnte Theater, Konzerte und Opernaufführungen ohne das gewohnte familiäre Prelude genießen. Einmal fuhren sie für eine Woche von Wien aus zu den Festspielen nach Salzburg und wurden dort mit Freikarten versorgt. Die Wohltäterin war Nunis Tante väterlicherseits, die berühmte rumänische Kammersängerin Viorica Ursuleac, die mit dem Dirigenten Clemens Kraus verheiratet war. Wenn beide vor dem Salzburger Festspielhaus aus ihrem Wagen stiegen, sie in ihrem Hermelinmantel, er im Frack, schwarzer Pelerine und schwarzem Zylinder, und beide Nuni in ihre Arme schlossen, erweckten sie die Aufmerksamkeit der Passanten. Nuni durfte mit Tante Viorica in die Garderobe und sah ihr beim Umziehen und Schminken zu. Es stand „Arabella“ von Richard Strauss auf dem Programm, Viorica Ursuleac sang „Arabella“ und ihr Mann dirigierte. Auf der Wand der Garderobe fiel Nunica ein großes Bild von Adolf Hitler auf. Darunter stand: „In großer Bewunderung unserer deutschen Kammersängerin Ihr Adolf Hitler“. Viorica Ursuleac war in der Buko­wina (Rumänien) in einem Kloster zur Welt gekommen, in dem ihr Vater als orthodoxer Priester fungierte. Sie sang dort im Kirchenchor, als Clemens Kraus sie dort entdeckt, sich in sie und ihre wunderbare Sopranstimme verliebt, sie nach Wien mitgenommen und dort zur Kammersängerin ausgebildet hatte.

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