Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

über Menschen und Tiere werde ich
Euch erzählen, die mir als
Persönlichkeiten begegnet sind...
Genunea Musculus

Episode aus dem Roman „Genunea. Czerno­witz liegt nicht nur in der Buko­wina“

Willy im Kloster

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Der Krieg wütete, und Weih­nachten stand vor der Lager­tür. Voller Mit­gefühl versprach Nunis Pfeffer­kuchen­tante den beiden eine große Tüte mit Pfeffer­kuchen! Pfeffer­kuchen mit echter Schoko­lade über­zogen. Dieser Gedanke machte sie ver­rückt vor Glück – echte Schoko­lade! Sie nahm sich vor, alle Pfeffer­kuchen abzulecken, um sich dabei in erster Linie dem Zungen- und Gaumen­genuss hinzu­geben. Aber, wie es im Leben so ist, kommt eine Freude nie allein. Wenige Tage vor Weih­nachten, als Nuni und Willy früh­morgens Kaffee und Marmeladen­brot genossen hatten, ertönte die Stimme des Lager­führers. „Alle Lehrer möchten sich nach dem Früh­stück im Büro­zimmer melden!“ Außer Willy war nur noch einer im Lager, polnischer Abstammung. Die anderen kämpften bereits „Für Führer, Volk und Vaterland“.

Zwei Schul­inspektoren waren vom Mini­sterium delegiert worden, sich die Lehrer zu angeln, die in den Schulen immer mehr fehlten. Strahlend berichtete Willy seiner Nunica, dass er ab sofort nach Patsch­kau (Schlesien) an eine Ober­schule berufen wurde. „Wann fahren wir hin?“, fragte Nuni hoffnungs­froh.

„Ich packe sofort den Koffer. Du musst noch eine kurze Weile hier­bleiben, bis ich eine Wohn­möglichkeit für uns beide gefunden habe“, ent­gegnete Willy de­pri­miert. „Wieso denn? Wo Du wohnst, kann ich doch auch sein. Allein zu bleiben, hier, ohne Dich, siehst Du nicht ein, wie schreck­lich das für mich sein würde?“ „Doch“, ant­wortete Willy, „aber es gibt momen­tan leider keine andere Lösung. Ich werde vorüber­gehend in einem Mönchs­kloster wohnen, und Frauen dürfen es nicht betreten. Aber zum Wochen­ende bin ich wieder bei Dir, vielleicht finde ich bis dahin auch eine andere Unter­kunft“, tröstete er Nunica. Diese menschen­unwürdigen Ge- und Verbote schienen Nuni absurd, doch trotzdem fügte sie sich ihnen. Die sechs Tage ohne Willy wurden für Nuni zur Kalami­tät, und dann kehrte Willy ohne positives Resultat ins Lager zurück. So beschloss sie, nach Weihnachten mit ihm nach Patschkau zu fahren, um allein eine Unterkunfts­möglich­keit zu ergattern.

Dort an­ge­kommen, sprach sie mit dem Schul­direktor und trug ihm ihre so prekäre Situation vor. Er verstand sie voll­kommen. Es sei Krieg, leere Woh­nungen gebe es nicht. Das einzige Hotel in der Stadt sei voll­kommen ausge­bucht und möblierte Zimmer wolle man nicht vermieten. Ratlos stand sie vor ihm, und der Gedanke, abends allein nach Wartha zurückzufahren, versetzte sie in große Traurigkeit.

Zum Mittag suchten Nuni und Willy ein Restaurant auf. Das einzige marken­freie Essen bestand aus Blut­wurst mit Graupen, Kar­toffeln und Sauer­kraut. Nuni schmeckte dies aus­ge­zeichnet, sie aß gleich zwei Portionen. Über diesen Appetit konnte sich Willy nur wundern. Das so ver­wöhnte Mäd­chen kam ihm mit ihrem außer­gewöhn­lichen Geschmack doch reich­lich merkwürdig vor. Nach­mittags gingen beide spazieren, und Nuni bewunderte die kleine, saubere Stadt mit der alten Verteidi­gungs­mauer.

Solch eine Stadt­mauer sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben, und Willy erklärte ihr die politische Bedeutung des mittel­alter­lichen Bau­werks. Es begann zu schneien. Die Sonne ging unter, und weil noch genügend Zeit blieb bis zu Nunis Abfahrt, gingen beide in ein Kino, um ein wenig Ablenkung von ihren drückenden Pro­blemen zu finden. Hand in Hand saßen beide wegen Nunis Kurz­sichtigkeit in der zweiten Reihe und wurden von nie­mandem gestört. Von dort hörte man ihre Küsse nicht, und Nunis pein­liche Lach­krämpfe waren wohl im Lager zurück­geblieben. Nein, sich nach einem so schönen Tag von ihrem Willy zu trennen, schien ihr genauso absurd wie das Verbot, als Frau nicht das Mönchs­kloster betreten zu dürfen. Sie ist doch kein Satan... oder vielleicht doch?

Denn plötzlich kam ihr ein dia­boli­scher Gedanke: im Dunklen ins Kloster zu schleichen, über die hintere Holz­treppe vorsichtig auf Fuß ­spitzen in Willys Manvsarde zu steigen und morgens, wenn die Mönche andachts­voll ihr Gebet verrichten, auf Fuß­spitzen ihr Sanctoir wieder zu ver­lassen. Um dieses Sakrileg durch­führen zu können, erkundigte sie sich bei Willy, ob sich vielleicht ein „Zerberus“ an der Kloster­pforte befände. Nunis Ent­schluss versetzte Willy in Ängste. Er kannte aber ihr Tem­pera­ment und ergab sich diesem. „Der Kloster­eingang ist nicht bewacht“, flüsterte er ihr zu. Lachend und euphorisch siegte sie auch diesmal – ihr Plan wurde erfolg­reich durchgeführt. Kein einziger heiliger Bruder hatte sie dabei ertappt. Davon ermutigt, schmie­de­te sie an einem neuen „Attentat“: Sie flanierte in der Kälte schon morgens allein auf den Straßen von Patsch­kau und be­trach­tete sich die Häuser, dachte an die Wärme in ihnen und an die Herzens­wärme der Bewohner. Gäbe es wirklich nicht einen Men­schen, der ihr helfen, der ihr ein Zimmer abtreten könnte?.

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