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So stand Nuni auf der Wallstraße vor dem Hause Nr. 23, einem einstöckigen hellen Haus mit einem kleinen braunen Holzbalkon. Die Fenstervorhänge waren aus weißem Tüll mit vielen Rüschen gearbeitet. Am dunkelgestrichenen eisernen Tor stand der Name, „Victor Ulrich“. Erst wollte Nuni läuten. Dann aber drückte sie ihre durchfrorene Hand auf die eiserne Klinke, die nachgab und das Tor aufspringen ließ. Die Holztreppe, die im Gegensatz zur geräuschlosen Klostertreppe laut knarrte, wies ihr den Weg hinauf zur Familie Ulrich. Sanfte Augen trafen auf Nunis flehende Blicke, als die Tür von einer etwa 45-jährigen Frau geöffnet wurde.
„Verzeihung, dass ich Sie störe, gnädige Frau. Wir sind Flüchtlinge aus Rumänien. Hätten Sie für meinen Mann und mich ein möbliertes Zimmer zu vermieten? Ich wäre Ihnen dafür sehr dankbar.“
„Kommen Sie doch bitte herein, mein Kind“, und Nuni bemerkte mit freudiger Erleichterung, wie sich der Gesichtsausdruck der noch Unbekannten veränderte, gütiger wurde. Frau Ulrich führte Nuni ins Speisezimmer, und plötzlich rief Nuni erstaunt und glücklich: „Es sind ja die gleichen Möbel, wie wir sie zuhause hatten!“ – hohe, braune, gepolsterte Lederstühle mit vielen kleinen Goldnägelchen beschlagen, die rote Samtdecke, darauf in der Tischmitte ein kleines, weißes, rundes Spitzendeckchen und eine „Rosenthal“-Vase. Links und rechts davon standen die zwei massiven Kredenzen, eine kleiner, eine größer... alles wie zuhause in Czernowitz! Nur der Samowar, der im Czernowitzer Speisezimmer auf dem Serviertisch strahlte, strahlte Nuni hier nicht an. Hingegen verspürte sie den angenehmen traditionellen, weihnachtlichen Duft der Pfefferkuchen und Tannenzweige.
„Der liebe Gott hat Sie mir geschickt! Erst gestern hörte ich von dem Unglück der Vertriebenen aus Czernowitz“, erzählte Frau Ulrich der erwartungsvollen, frohen Nuni, „und ich wünschte mir, diesen armen Menschen irgendwie helfen zu dürfen. Dafür habe ich Abend für Abend gebetet, und nun stehen Sie heute vor meiner Tür! Natürlich werden Sie bei uns bleiben. Das Zimmer, das ich Ihnen zur Verfügung stellen kann, ist zwar nicht sehr groß, aber wo Liebe und Gott wohnen, ist auch für Sie beide Platz.“ Nuni sprang auf und küsste Frau Ulrich. „Nicht mir müssen Sie danken – Gott half Ihnen, mein Kind“, meinte sie völlig überzeugt.
Schon nach drei Tagen waren Nuni und Willy in ihr neues kleines Palais umgezogen. Hier fehlte es ihnen an nichts. Hier konnten sie nach vier langen Monaten Lagerleben ungestört ihre Flitterwochen entfalten. Von der Stadtverwaltung bekamen sie ihre Bettwäschebezugsscheine, Kleider- und Lebensmittelmarken, von Familie Ulrich Liebe und Gottes Segen. Nuni wollte ihre Talente prüfen, ob sie überhaupt welche besäße, und fing sogleich mit dem Kochen an – mit dem sparsamen Kochen. Es mussten 100 Gramm Hackfleisch für zwei Personen eine ganze Woche lang ausreichen. „Gekonnt, wie...“, lächelte Frau Ulrich, und dann geschah das „Wunder“: Aus dieser Fleischquantität fabrizierte sie acht Bouletten mit fünf eingeweichten Brötchen, vielen Zwiebeln, mit einer Messerspitze Eipulver und einem subtilen, fast unspürbaren Fleischaroma. Dazu wurde ein großer Topf mit Kartoffeln aufgesetzt, und so reichte die Abfütterungstragikomödie reichlich aus. Rührend bewachte Frau Ulrich das Küchen- und Kochverhalten von Nuni, und als sie deren Schwierigkeiten wahrnahm, begann sie mit dem Unterricht.
Die allererste und wichtigste Lektion bestand im Kartoffelkochen, denn eine große Lebensmittelauswahl gab es ohnehin nicht. Nuni wollte die „raren Früchte“ fachgemäß, so wie sie es im Lager beigebracht bekommen hatte, abschälen, dünn abschälen, als sie nun aber etwas Neues hinzulernen musste: Frau Ulrich erklärte ihr nämlich, dass unter den Schalen viele liebe Vitamine lebten. Amüsiert betrachtete Nuni auch die große, zweizinkige Gabel, die nach ungefähr zwanzig Minuten Kartoffelkochzeit vorsichtig in eine Kartoffel eingestochen wurde. Geht diese Prozedur leicht vonstatten, bedeutet es, dass die Kartoffeln gar sind. Sollte die zu diesem Zweck erfundene Gabel aber einen Widerstand seitens der Kartoffeln verspüren, müssen sie noch ein paar Minuten im kochenden Wasser sprudeln.
Aber nicht nur im Kochen näherten sich die beiden guten Wesen an, sie verspürten Dankbarkeit und Zuneigung füreinander – Frau Ulrich auf ihre ethisch-religiöse Weise – Nuni, einfach glücklich, hier in der Fremde eine „Ersatzmutter“ gefunden zu haben, die ihrem Herzen schon immer gefehlt hatte.
Victor Ulrich bezog nach langjähriger Postbeamtentätigkeit seine wohlverdiente Pension. Seinem Aussehen nach zu urteilen, konnte man leicht den korrekten und gewissenhaften Staatsbeamten erkennen. Er lachte fast nie, obwohl sein Mund, in dessen Ecke immer eine dicke Zigarre puffte, einen leicht verschmitzten Ausdruck hatte. Öfters kam er zu seiner Frau Luise in die Küche, um an den Kochtöpfen zu schnuppern. Nuni schien ihm trotz seines zurückhaltenden Wesens sympathisch.
Das Leben der vier Einwohner in der Wallstraße 23 gestaltete sich in Harmonie und Zuversicht. So schlug Frau Ulrich eines Tages ihrer Nuni das „Du“ vor und bat sie, sie von nun an „Tante Luise“ zu nennen. Dann begann sie ihr zu erzählen: „Schau, meine liebe Nunica, durch Eure Anwesenheit hat mein Leben einen Sinn bekommen. Gott gab mir die Aufgabe, zu helfen, und Du wurdest mir von ihm geschickt. So erfülle ich seine Wünsche und komme ihm näher.“
Gerührt lauschte Nuni ihr und konnte sich für all das Gute, das Tante Luise ihr gab, nur mit Liebe und Verständnis erkenntlich zeigen. Manchmal beschlich sie das unbehagliche Gefühl, das wäre zu wenig, doch was sollte sie ihrer so guten Fee außer ihren aufrichtigen Gefühlen schenken? Die meisten Abende verbrachte man zusammen. Krieg und Nazismus war wohl nicht gerade das Wahre für die beiden anständigen Ulrichs, und so begann Nuni dann auch, über ihr junges Leben zu berichten, immer humorvoll und ironisch.
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