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Nur wenige Tage später läutete es um Mitternacht stürmisch an der Haustür. Prof. Dr. Alecu Jeschan, ein Familienfreund, stand sichtlich bestürzt in der Tür. Seine Worte überschlugen sich. „Packt sofort Eure Sachen! Morgen früh werden Bessarabien und die Nordbukowina wegen des Deutsch-Sowjetischen Paktes an die Russen abgetreten! Dies meldete eben Radio Paris!“ Silviu entgegnete ihm aber optimistisch: „Es mag wohl sein, Alecu, dass Bessarabien zu Russland zurückkehrt; es gehörte vor 1918 ja auch schon zu Russland. Die Bukowina aber hatten sie nie besessen, und sie wird bestimmt nicht annektiert. Natürlich wird Panik ausbrechen, und ich werde meine Familie morgen früh sicherheitshalber mit dem Wagen in den Süden schicken, nach Vatra Dornei, bis sich alles normalisiert hat.“
Der Chauffeur kam um sechs Uhr morgens. Schläfrig stiegen Lilly, Nunica und Bobby mit zwei Koffern in den Wagen. Bevor sich Nuni von ihrem Vater verabschiedete, wandte sie sich mit einer Bitte an ihn: „Tatica, ich möchte meinen neuen Pelzmantel mitnehmen, den ich als Geschenk zum Abitur bekommen habe. Man kann den Russen nicht trauen.“ „Sei bitte nicht komisch. Die Russen kommen nie nach Czernowitz, und für ein paar Tage im Juli brauchst Du keinen Pelzmantel“, wollte Silviu sie überzeugen. Traurig und ohne Mantel verabschiedete sich die Familie.
Nach zweistündiger Fahrt wurde im Rundfunk die Nachricht ausgestrahlt, dass Czernowitz am Nachmittag von den Russen besetzt würde und die rumänischen Behörden mit der Evakuierung der Stadt begonnen hätten. Im Wagen wurde es still. Die Gedanken drehten sich um Silviu, Hilde, Zenobia, Hozu, Poussi und schließ lich auch um Nunis Mantel. Der Chauffeur dachte an seine Familie und an sein kleines Vermögen. Die Schönheit der Fahrt auf den Serpentinen zwischen den dichten Tannenwäldern war unbemerkt verflogen. Das eintönige Summen des Automotors begleitete als Trauermelodie die vier nachdenklichen Insassen.
Gegen Mittag erreichten sie Vatra Dornei. Dort kamen jetzt auch die ersten Züge mit Flüchtlingen an. Silviu erschien nicht. Aufruhr. Suchende Blicke irrten auf den Straßen umher. Lilly fühlte sich sehr müde und eilte sofort ins Kurhotel vis-à-vis dem Bahnhof, das dem großen Forstbetrieb der rumä nischen orthodoxen Kirche gehörte, in dem Silviu als Generaldirektor fungierte. In diesem Hotel waren immer zwei Zimmer nur für die Familie Dimitrovici reserviert. Dort legte sich Lilly hin. So begann ihr langes, schweres Herzleiden.
Am späten Nachmittag trafen Hilde und die Familie des Chauffeurs mit der Bahn in Vatra Dornei ein. Zenobia, Hozu und Poussi wollten Czernowitz nicht verlassen. Silviu evakuierte das Archiv seines Betriebes, schickte alle Beamten mit Autos, Lastwagen und Zügen in den Süden, um sich schließ lich als Letzter „in Treue zu Amt und Vaterland“ zu retten.
Pflichterfüllt, bleich, mit einem Koffer in der einen und der Schmuckschachtel in der anderen Hand, kam er gegen sieben Uhr abends mit der letzten Bahn aus Czernowitz am Bahnhof von Vatra Dornei an. Lilly hatte nach einer Herzspritze und den Beruhigungspillen, die sie einnehmen musste, noch Kraft genug, Silviu zu umarmen. Nuni fragte sogleich nach ihrem Mantel und Bobby nach seinen Büchern. Lilly verabschiedete sich gedanklich von ihrem geliebten, wohlgestimmten Flügel.
„Warum hast Du denn die Schmuckdose in der Hand, mein Silviu?“, fragte Lilly erstaunt. „Der Koffer ist doch noch zu voll. Für sie hatte ich keinen Platz mehr.“ „Konntest Du denn in der Eile noch Wertvolles mitbringen?“ Lilly bat Silviu, den Koffer zu öffnen. Er war – leer!
Man schaute sich verwundert an, fing an, zu lachen, und Lilly meinte: „Gut, dass Du mit dem Leben davongekommen bist. Der Rest ist uninteressant.“ Nuni fühlte sich erleichtert, befreit vom Reichtum und seinen Konsequenzen. Ihr Herz begann vor Freude besonders stark zu schlagen. Sie fragte sich, wo nur ihr lieber Willy stecken könnte, denn jetzt, wo sie mit einem Schlag verarmt waren, dürfte sie ihren Gefühlen folgen.Das große Casino von Vatra Dornei, das ebenfalls dem Forstbetrieb gehörte, wurde umgestaltet. Von Silviu organisiert, entstanden Büros, eine Arztpraxis und eine Kantine. Dort meldete sich Nuni als Küchenhilfe, um den vielen Flüchtlingen das Essen zu servieren. Zum ersten Mal im Leben erfuhr sie so von dem Glück, für andere Menschen etwas Positives tun zu dürfen. Diese neue Aufgabe erfüllte sie mit Freude. Ihre Bereitschaft und ihr immer freundliches Wesen linderten vielleicht so manchen Kummer und Verdruss der armen, nun heimatlosen Menschen.
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