Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

über Menschen und Tiere werde ich
Euch erzählen, die mir als
Persönlichkeiten begegnet sind...
Genunea Musculus

Episode aus dem Roman „Genunea. Czerno­witz liegt nicht nur in der Buko­wina“

Lilly und die Familie

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Die Mutter der Kinder ent­puppte sich auch als ein Kapitel für sich. Hausfrauen­pflichten und Mutter­gefühle blieben ihr fremd. Erst nach elf Uhr vormittags erwachte sie. Dann rief sie nach Zenobia, dem Stubenmädchen, und erkundigte sich nach dem Wetter. Die Fensterläden des Schlafzimmers zur Veranda hin wurden geöffnet und – egal, ob Sommer, Winter oder Regen­wetter – die Sonne schien herein. Die bunten Fenster­scheiben tauchten die Veranda in opti­mi­sti­sches, farben­frohes Licht. Lilly sprang aus dem Messingbett, warf ihr Batist­nachthemd in eine Ecke und lief, nackt und barfuß, springend ins Bad. Daran hatte man sich auch schnell gewöhnt. Sie musste das Speise­zimmer, einen großen Flur und die Küche durch­queren. Hier aber unterbrach Lilly ihren Weg für kurze Zeit, umarmte Mariuca und fragte sie, was es denn heute zum Mittag gebe. Mariuca ant­wortete gewöhnlich nicht, sollte der Speise­plan doch eine Über­raschung für ihre Haus­herrin sein. Das Bad er­frischte Lilly, sie turnte danach ein wenig und ging in die Küche, um zu frühstücken. Täglich nahm sie zwei Tassen Tee mit dem Saft von sechs aus­ge­pressten Zitronen zu sich, außerdem zwei „Mohn­kipferln“. Sie unterhielt sich dabei mit Mariuca und Zenobia, hatte dann aber schon einen Bade­mantel ange­zogen.

Nach ein Uhr mittags holte Lilly ihren Gatten Silviu von seinem Büro ab. Bis dorthin musste sie einen langen Weg laufen, denn sein Amt war ungefähr zwei Kilo­meter von zuhause entfernt.

Auch den Rückweg traten beide zu Fuß an, um ihren täglichen Bewegungs­bedarf zu decken. Am frühen Nach­mittag kamen beide wieder zuhause an, und immer wieder be­reitete Lilly den Kindern und dem Personal Freude mit einem lustigen Ent­blößungs­spiel, das „Frau Doktor“ (so sprach das Personal sie an) aus purem Über­mut erfunden hatte: Hut, Hand­schuhe und Mantel warf sie ab, wo sie gerade stand, ihre Füße ent­kleidete sie, indem sie bis „drei“ zählte und dann ihre Stiefel oder Schuhe bis zur Decke schleu­der­te. Lillys Fußfertigkeit dabei war bewunderns­wert, nie zer­schlug sie Lampen oder Fenster­scheiben. Nur manchmal blieben an der Decke leichte symbo­lische Flecken, die vom Wetter und der Sauber­keit der Stiefel oder Schuhe abhingen.

Nach­mittags aßen die Eltern allein im Speise­zimmer. Rondella und Bobby lagen um diese Zeit schon in „Morpheus Armen“. Nach ihrer Mahl­zeit begann Lilly, Klavier zu üben, ungefähr vier bis fünf Stunden. Am Abend decla­mierte sie Gedichte und ver­schiedene Passa­gen aus Theaterstücken, meist Dramen. Weil der mittägliche Fußweg den Eltern offen­bar noch nicht reichte, gingen sie abends noch einmal eine Stunde spazieren. Selten legten sie sich vor zwei Uhr nachts zur Ruhe.

Gäste ver­ur­sach­ten Lilly so manche Pro­bleme. Sie wurden kategorisiert in „sympathische“ und „un­sympa­thi­sche“ Menschen. Künstler, Professoren und Ärzte re­präsen­tier­ten die erste Kate­gorie. Verwandte, Offiziere und Pfarrer bildeten die zweite, die un­sympa­thische Gruppe. Man konnte aber nicht immer nur „sympathische“ Vertreter bei sich haben; ab und zu – meistens an den Feiertagen – kam auch die lieben Ver­wandten. Offi­ziere wurden von einer Freundin, Julia, ins Haus geschleust. Sie hatte eine Vorliebe für solch „schöne“ uniformierte Männer mit langen Lackstiefeln, Goldknöpfen, ein­gecremtem glänzendem Haar und wenig Geist. Und endlich die orthodoxen Pfarrer mit ihren langen Gewändern und ihren langen, weißen Bärten, die dreimal jährlich kamen, um mit Weihrauch, einem Stroh­pinsel Weihnachts­besprit­zungen mit geweihten Wasser und so nach­einander alle Räume des Hauses zu segnen, den Satan zu ver­jagen und dafür ein gutes Trink­geld zu erhalten. Während dieser Show versteckte sich Lilly auf der Toilette. War diese aber schon besetzt, kroch sie, wie Hozu, unters Bett. Um die für Lilly fürchter­liche Atmosphäre zu be­reinigen, wurden nach dem Besuch solcher unerwünschter Menschen alle Fenster weit geöffnet und die Tür­klinken mit alkohol­impräg­nier­tem Klosett­papier abge­wischt. Rondella musste hier auch mithelfen, ungern und ge­zwun­gener­weise.

Bobby war für diese Arbeit nicht zu ge­winnen; er war kate­go­rischer als Rondella und sagte zu Lilly nur: „Mama, Du bist verrückt. Lass mich in Ruhe, ich muss zeichnen und Tiere aus Pla­stel­lin formen.“

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