Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

über Menschen und Tiere werde ich
Euch erzählen, die mir als
Persönlichkeiten begegnet sind...
Genunea Musculus

Episode aus dem Roman „Genunea. Czerno­witz liegt nicht nur in der Buko­wina“

Rondella und Bobby

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Bobby war das ganze Gegenteil von Rondella. Er fand die Menschen abscheu­lich und hatte Angst vor ihnen. Im runden Zimmer hatten sich wieder mehrere Gäste zu einer Ver­anstaltung einge­funden. Bobby war damals vier Jahre alt. Er trug einen neuen Matrosen­anzug, musste ins Zimmer kommen, jedem die rechte Hand geben und je einen „Diener“ machen. Mit gebeugten, fast hängendem Köpfchen betrat er völlig eingeschüchtert den Raum, ging in dessen Mitte, hob das Köpfchen, sah die wartenden Menschen an, wurde blass und fiel ohnmächtig auf den Teppich. Teta erweckte ihn gleich wieder zum Leben, und man schwor sich, ihn nie wieder dieser Folter auszu­setzen.

1928. Rondella war gerade sieben Jahre alt geworden, und ihr erstes Schuljahr hatte begonnen. Sie zeigte aber weitaus mehr Inte­resse und Vor­liebe für das Tanzen. So enga­gierte man für sie eine Tanz­lehrerin. Die Kleine lernte Ballett und tanzte rhyth­misch sehr graziös. Rita de la Verda hieß die Tanz­meisterin, eine schöne Russin, die während der russi­schen Revo­lu­tion nach Italien geflohen war. Dort hatte sie einen ita­lie­nischen Adligen ge­heiratet, war aber nur kurze Zeit mit ihm glück­lich gewesen. Sie hatte Italien wieder verlassen und eine moderne Tanzschule in Czerno­witz eröffnet, weil ihr diese Stadt als kultu­relles Zentrum bekannt war. Durch ihren klingenden, fremd­artigen Namen bekam sie viele Schüler und ihre Schule einen guten Ruf. Rondella war eine ihrer begabtesten Tänze­rinnen. Rita de la Verda besuchte zweimal wöchentlich die Familie Dimi­tro­vici und brachte es mit Rondella so weit, dass sie öffentlich und solo im Kinder­theater auftrat. Beim Tanzen fühlte sich Rondella in ihrem Element. Die Musik, die kurzen Rüschen­kleidchen und der Applaus des Publikums halfen ihr über ihre alltäg­lichen schuli­schen und fami­liären Sorgen hinweg­zukommen. Man ver­suchte auch, Bobby für das Ballett zu gewinnen und einen schönen Radetzky-Marsch in Uniform zu tanzen. Bobby war unerbittlich, stand­haft und hatte für solche Zeitverschwendung über­haupt kein Interesse.

Die Schule brachte weitere Un­annehm­lich­keiten mit sich: die Kinder­krankheiten. Rondella war die Mikroben­über­bringe­rin und steckte natür­licher­weise auch Bobby an. Die beiden Kinder wurden in einzelnen Zimmern isoliert, die Türklinken wickelte man in alkohol­getränkte Chiffons ein und wartete auf die Kinderärztin Frau Dr. Drehler. Sie wohnte neben­an in einem der Häuser der Familie Dimitrovici als Mieterin. Auch sie war ein Ori­ginal, eine kleine, zier­liche Frau mit weißem Haar und einer sehr tiefen Stimme. Als Ärztin und Musikerin hervor­ragend, spielte sie wunder­bar Geige. Leider war ihr das Glück in puncto Liebe nicht gut gesonnen, so dass sie in ihrem Kummer zur Flasche griff. Oft, sehr oft, wurde Vater Silviu nachts durch die Polizei telefonisch benachrichtigt, weil Frau Dr. Drehler wieder einmal in betrunkenem Zustand im Straßen­graben gelegen hatte. Silviu musste dann seinen Chauffeur wecken, der die Arme dann fluchend nach Hause brachte.

Wahrscheinlich durch ihre Arbeit, durch Depressionen und Alkohol­genuss bedingt, bekam Frau Dr. Drehler einen „Tick“. So begrüßte sie, wenn sie zur Konsultation ins Haus Dimitrovici kam, das Personal, die Eltern, Oma und die Kinder sehr ergeben mit einer Ver­beugung fast bis zum Boden und den Worten „Küss die Hand!“ Rondella und Bobby brachen in lautes Gelächter aus. Dank der richtigen Diag­nose der Ärztin waren die Kinder immer bald wieder auf den Beinen.

Eines Tages lag Bobby mit hohem Fieber im Bett. Plötzlich sagte er zu Schwester Louise: „Bitte ruf die Mama zu mir, ich muss sie um etwas bitten.“ Ver­wundert kam Lilly. „Nimm bitte einen Bleistift und ein Blatt Papier, ich muss Dir etwas diktieren... Der Titel ist: ‚Die Agonie eines Kindes‘.“ Bobby war über­zeugt, dass er aus dieser Welt scheiden müsse und erzählte Lilly, dass das Sterben gar nicht weh täte und niemand um ihn weinen möge. Er wurde aber wieder gesund und begann, Tiere, Loko­motiven und ausdrucks­volle Gesichter zu zeichnen und viele Figuren aus Plastilin zu model­lieren. Alle staunten über sein großes Talent.

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