Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

über Menschen und Tiere werde ich
Euch erzählen, die mir als
Persönlichkeiten begegnet sind...
Genunea Musculus

Episode aus dem Roman „Genunea. Czerno­witz liegt nicht nur in der Buko­wina“

Tutica und Rondella

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Oma Stefanie wurde immer kränker. Ein schweres Leber­leiden quälte sie, die fast den ganzen Tag im Bett bleiben musste. Doch von hier aus diri­gierte sie den ganzen Haushalt. Sie sprach mit Olga und Mariuca das tägliche Menü ab, rührte im Bett sitzend Zutaten für Torten und häkelte und strickte trotz ihrer Erblindung. Für die kleine Rondella entwarf sie die ori­gi­nell­ste Decke, die je existier­te. Aus weißem Baumwoll­garn häkelte sie kleine Deckchen, 10 mal 10 Zentimeter groß. Sie wurden mit blauem Garn von Teta zu einer Decke zusammen­genäht. Dann schrieb Oma für Rondella ein Gedicht:

    Kleines, mit neuen Schuhen gehst Du auf die Straße,
willst gesehen sein und beachtet in allerhöchstem Maße,
ganz vorsichtig trittst Du, nur auf die Spitzen
denn Du möchtest sie allzeit makellos besitzen.

Doch siehst Du auf Ihnen dereinst einen Flecken,
gehst Du fortan ohne Acht, ohne Schrecken.
Weißt Du, mein Kind­chen, mit der Seele ist es gleich,
drum halte bedacht­sam sie rein und reich.

Dieses Gedicht nähte nun Teta mit blauem Garn in die weißen Felder der Decke, ein Wort in jedes Feld. So träumte Rondella süß unter der speziell für sie kompo­nierten lyrischen Decke.

Nachmittags schlief „Omama“ ungefähr eine Stunde. In den warmen Monaten legte sie sich in einen Schaukel­stuhl in einer der beiden Veranden, wo sie frische Luft atmete und dem Gesang der Vögel lauschte. Zum Kaffee kamen meistens Menschen zu ihr, um sie um Rat und Tat zu bitten. Es waren Schulkollegen, Profes­soren, Künst­ler, Arbeiter und Bauern. Alle empfing sie liebe­voll und hörte jedem inte­res­siert zu. Dann verließen sie sie – reicher und opti­mi­sti­scher.

Abends waren die Stunden der Erholung und der geistigen Arbeit. Stefanie spielte Klavier, dichtete und hörte einer Dame zu, die enga­giert wurde, um ihr vorzulesen. Sie war über kultu­relle und poli­ti­sche Ereig­nisse bestens informiert.

Mit ihrer ganzen Hingabe und Liebe wandte sie sich Rondella zu, die Kleine war die Er­fül­lung ihres Lebens. Sie hatte aber ganz große Sorgen um Rondella. Sie spürte, dass sie nicht mehr allzu lange leben würde und dass Rondella, von ihren Eltern ver­nachläs­sigt, ohne Liebe auf­wachsen müsse. Das aber einem siebenjährigen Kind zu schildern, fiel der alten Dame sehr schwer. So erzählte sie Geschichten und flocht dazu geschickt Tat­sachen aus ihrem wahren Leben ein, die Rondella in der Zukunft helfen mochten.

So begann eine Geschichte damit, dass ein armes Elternpaar als Geschenk vom Storch ein Töchterchen bekam. Sie konnten sie kaum ernähren – so arm waren die beiden. Auch hatten sie keine Zeit, sie zu liebkosen oder zu verwöhnen, denn sie mussten den ganzen Tag schwer arbeiten. Das Töchterchen spielte im Sand­kasten, freute sich über die Blumen und die Schmetter­linge, wurde größer und ging zur Schule. Sie lernte fleißig und wurde später Lehrerin, ver­diente ihr eigenes Geld und verließ zufrieden ihr Eltern­haus.

Rondella hörte auf­merksam zu, und die Idee, das Elternhaus zu verlassen, lachte ihr entgegen. Ob sie aller­dings auch mit dem fleißigen Lernen ein­ver­standen sein würde, wird später er­sicht­lich werden.

Im All­gemeinen war sie ein gutmütiges und relativ artiges Kind, liebte Gesell­schaft, das Tanzen, Musik und die Hand­taschen der Damen. An den Abendempfängen ihrer Eltern war sie selig. Ungefähr eine Stunde lang durfte sie auch an der Gesell­schaft teilhaben. Sie setzte sich immer gleich auf den Schoß der schönsten, jüngsten, geschmink­testen und geschmück­testen Dame. Mit ihren Händchen begann sie, die langen, glit­zernden Ohr­ringe zu betasten, dann das Collier, die Ringe und endlich die Strass-Abend­tasche. Sie wurde von Rondella sorgfältig geöffnet, dann Rouge, Puder und Lippen­stift entnommen, und hiermit ging sie in den Grünen Salon. Vor dem großen Kristall­spiegel begann ihre Kos­metik. Ihr Traum war es, groß zu sein, hohe Absätze zu tragen, sich mit viel Schmuck zu behängen und sich die Lippen purpur­rot zu schminken.

Leider musste sie sich aber bald von den Gästen ver­ab­schieden, um in ihr Bettchen zu wandern. Teta holte sie ab. Nach solch einem Abend aber schlief Rondella nicht so tief wie sonst. Sie schmie­dete in ihrem Köpfchen wieder einen Plan. Zu gern nippte sie Alkohol. Täglich bekam sie einen Löffel Rotwein zur Stärkung – nur einen Löffel. Sie war auf den Geschmack gekommen und wollte mehr von diesem Elixier, So stand sie nachts auf, schlich barfuß, auf Zehen­spitzen ganz vor­sichtig ins Speise­zimmer und in den Salon. Die meisten Gläser ent­hielten noch etwas Wein. Rondella griff sich Glas für Glas und leerte alle. Dann taumelte sie glücklich, von nie­mandem gesehen, in ihr Bettchen zurück. Nur schwer war sie am Morgen wach­zu­bekommen.

Gefräßig war die Kleine auch. Sie naschte die ganze Zeit; man sah sie auch auf der Straße beim Spazier­engehen nie an Tetas Hand. Ihre Händ­chen waren aber auch nie frei. In der Rechten hielt sie ein Butter­brot, und die Linke führte eine große, weiche Birne zum Mündchen. Der Birnen­saft floss über ihre runden Bäckchen, verstopfte ihre Nasenlöcher und rutschte in ihr rundes, wohl­genährtes Décolleté bis zum Nabel. Schürzchen wollte Rondella nie tragen – dazu war sie viel zu eitel. Ihre hübschen Kleider, die man für sie aus Wien bestellte, waren gleich voller Saft- und Fett­flecken.

Bis zum Schul­anfang hatte Rondella keine Freunde. Ihr liebster Spiel­kamerad war ihre geliebte „Omama“. Rondella ver­kleidete sich gerne mit alten Sachen ihrer Mutter. Ein violetter Morgen­rock mit einem breiten schwarzen Gürtel, Lack­schuhe mit hohen Stöckeln, Federhüte und Pompa­dours mit Puder­quaste und Parfum – so erschien sie zum Fünf-Uhr-Tee bei ihrer Oma Stefanie, der Frau Direk­torin. Man hörte die Kleine schon von weitem in den viel zu großen Stöckelschuhen auf dem ge­bohner­ten, knarren­den Parkett. Merk­würdig war, dass Rondella immer die arme Frau spielte. Sie erzählte ihrer „Frau Direk­torin“, dass sie die Frau eines Holz­hackers sei und fünf Kinder habe, die sie kaum ernähren könne. Mitleid erwecken und Hilfe erhalten fand sie schöner als das problem­lose Leben der Reichen.

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