Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

über Menschen und Tiere werde ich
Euch erzählen, die mir als
Persönlichkeiten begegnet sind...
Genunea Musculus

Episode aus dem Roman „Genunea. Czerno­witz liegt nicht nur in der Buko­wina“

Bobbys Taufe

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Große Freude berei­tete die weih­nacht­liche Besche­rung! Von ihrer Tante Grete bekam Rondella eine Puppe aus Wien geschenkt, eine wunder­schöne große Puppe mit gold­blonden Locken und einem rosa Tüll­kleidchen mit vielen Rüschen. „Mama“ konnte sie auch sagen.

Rondella freute sich über diese Über­raschung, doch wieviel schöner wäre es gewesen, hätte sie einen „Jungen“ be­kommen. Ob man nicht eine Ver­ände­rung vor­nehmen könnte, um diese „Schande“ zu be­sei­ti­gen?

In dieser deli­katen Situa­tion eilte ihr ein guter Geist zur Hilfe. Schnell hüpfte Rondella in die Veranda (Rondella ging nie, sondern hüpfte, auch auf der Straße), wo sich hinter einem Vor­hang viele Koffer und Hut­schachteln ihrer Mutter befanden. In einer der Schach­teln fand sie ver­schie­dene Leder­handschuhe, die Lilly bei ihren Kon­zerten trug - weiße und schwarze drei­viertel­lange Glacé­hand­schuhe feinster Quali­tät.

Mit einer scharfen Schere schnitt Rondella den Daumen eines schwar­zen Hand­schuhs ab. Über ihre Tat ent­zückt, schritt sie sogleich zur Ope­ra­tion. Sie zog ihre Puppe aus und versuchte, mit Spucke den schwar­zen Glacé-Daumen zwischen den Beinen fest­zu­kleben. Die Spucke klebte aber nicht. Da Rondella auch viel in der Küche spielte und beim Kochen und Backen gern zuschaute, er­inner­te sie sich, dass man eine Kleb­masse aus Teig und Wasser herstellen kann. Von Kleb­stoff „Uhu“ war damals noch keine Spur. Auf einem Schammerl streckte sie sich empor bis zur ersten Schub­lade der Küchen­kredenz, wo sich das Mehl befand. Ein Löffel Mehl und viel Spucke genügten, um die Um­wandlung zu voll­ziehen.

Nun ist es ge­schehen - der Daumen klebt ganz fest, er ist groß und schwarz, jeder kann ihn wahrnehmen. Er sticht bewusst ab.

Das Tüll­kleidchen zog Rondella der Puppe doch an, denn sie hatte keine Aus­wahl. Die Puppe hieß „Lola“. Ihre Tat verriet sie vorläufig nie­mandem, denn sie hatte weitere Pläne.

Am 6. Januar 1926 bereitete man alles für die große ortho­doxe Taufe des Brüderchens vor. Der Erz­bischof zele­brierte sie. Zwei

Minister, Hochschul­profes­soren, waren die Tauf­paten, und viele, viele Gäste wurden ein­ge­laden.

Im grünen Rokoko-Salon fand das Ritual statt. Man brachte einen großen, ver­silber­ten Kessel, füllte ihn mit ungefähr zehn Litern kaltem Wasser und stellte ihn auf den grünen Perser­teppich mitten in den Salon. Um acht Uhr abends sollte die Feier beginnen. Die Gäste fanden sich in Abend­garderobe ein - die Damen in langen Seiden-, Samt- und Brokat­kleidern, die Herren in Frack und Smoking.

Zehn Minuten nach acht erschien der Erz­bischof. Würdig, mit erhobenem Kopf, betrat er das Zimmer. Er blitzte von allen Seiten. Seine lila­vio­lette Velours­mütze, die ungefähr einer Koch­mütze glich, saß fest auf seinem Kopf und rutschte bis zu den Augen herunter. Seine buschigen, grau­melierten Augen­brauen ver­hinder­ten ihr weiteres Herunter­gleiten. Unter den strahlenden Augen ragten zwei wohlgenährte, rosa­rote Bäck­chen hervor, aus denen in der Mitte eine kleine Stupsnase emporguckte. Sein ganzes Gesicht war von weißgrauem, gekräu­seltem Haar umringelt, das sich als Bart bis fast zum Nabel in ver­schlin­gen­den Zipfeln fortsetzte. Zwischen diesem zottligen Locken­wirrwarr blitz­ten, wenn immer er sich bewegte, die glit­zern­den Steine eines immensen Kreuzes. Sein Fest­gewand war aus langer, schwerer Seide und floss aus seinem dicken Körper bis zum Fußboden herunter. Es war in Rot, Silber und Gold mit Motiven aus dem Paradies bestickt, und weiter unten mit Symbolen der Hölle. Die Schuhe ver­schwanden unter seinen Röcken. Ein Sekundant, ein armer Kirchen­diener, brachte ihm vier Meter lange, silberne Kerzen­leuchter mit, die er neben dem Tauf­kessel hin­stellte.

Bobby wurde nackt in den Armen von Luise herein­getragen. Er war ein süßes, pumm­liges Baby. Ver­wundert und ers­chrocken blickte er in die Menschen­menge. Man gab das Baby in die großen, plumpen Hände des Erz­bischofs. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes tauchte man das Opfer dreimal in das kalte Wasser, und er bekam den Namen „Silviu“. (Man rief ihn später aber meist „Bobby“.)

Er schrie wie am Spieß, und nach dem dritten Eintauchen wurde er schnell in Frottéetücher gepackt, um eine eventuelle Lungen­entzündung zu ver­meiden. Das war aber noch nicht alles. Der Erz­bischof nahm eine Schere und schnitt Bobby eine seiner Locken ab.

Das „bar­bari­sche“ Zere­moniell be­ein­druckte Rondella sehr. Was mit dem Ent­fernen seiner Locke bewirkt werden sollte, wissen die Götter. Andachts­voll stan­den die Gäste samt Erz­bischof und be­trach­teten den Kessel, die Leuchter und das schrei­ende Baby.

Rondella ver­schwand, doch sie kam gleich wieder zurück in ihrem rosa Taft­kleidchen mit der großen Schleife im Haar. In ihren Armen hielt sie die nackte Lola mit dem mar­kanten Kenn­zeichen, das nicht gerade allzu gut zum Alabaster­körper von Lola passte. Aber man sah deutlich ihr - oder sein - starkes Geschlecht.

Eine Unruhe entstand in der befangenen Versammlung. „Lieber Herr Erzbischof, bitte taufen Sie meine Puppe Lola, die ich in einen Jungen verwandelt habe, auf den Namen ‚Peter‘. Eine Locke schneiden Sie ihr aber bitte nicht ab.“

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann tauchte der Erzbischof die Puppe drei­mal in das Wasser. Die Gesell­schaft atmete erleichtert auf, man lachte herzlich und viele Gäste umarm­ten Rondella. Gegen zwei Uhr nachts endete die Feier. Die Gäste verließen amüsiert, gut genährt und mit erzbischöflichen Segen das Haus Dimi­trovici. Die Familie und das Haus­personal legten sich zur Ruhe.

Um vier Uhr morgens aber wurden alle durch klirrendes Getöse aus dem Schlaf gerissen. Die Fensterscheiben zerbrachen auf der ganzen Front­seite des langen, weißen Hauses. Als man voller Angst die Holz­fenster­läden von innen öffnete, verschwanden mehrere Schat­ten im Dunkel der Nacht. Was war das - so ein Tumult, so ein Schreck nach der schönen Feier?! Baby Bobby, frisch getauft und als neues Mit­glied in den Schoß des Christen­tums auf­ge­nommen, schrie wie in der Hölle.

Am Tage darauf wurde dieses Mysterium geklärt. Pro­fessor Dr. Radu Sebari, Pro­fessor der Philo­sophie, war nicht zur Taufe eingeladen worden. Wahr­schein­lich war der Arme durch zu großes Wissen und durch zuviel Lernen und zuviel Phan­tasie zum Außen­seiter der Gesell­schaft geworden. Er war ein Ori­ginal. Im streng­sten Winter, bei minus 25°C, ging er mit einer grauen Fleder­maus-Pelle­rine ohne Kopf­bedeckung durch Czerno­witz. Er trug weiße Sandalen und hielt in einer Hand eine Pferde­peitsche. So er­schreckte er auf dem Trot­toir die Menschen, die ihm auswichen und ihn „Dracula“ nannten. Seine Studenten nannten ihn „den flie­gen­den Holländer“. Vater Silviu kam auf die Idee, dass er aus Rache die Fenster ein­geschlagen haben könnte.

Vor Gericht gab Pro­fessor Dr. Radu Sebari nichts zu und wusch seine Hände in Unschuld. Be­weise lagen natürlich nicht vor. Nie­mand hatte ihn um vier Uhr morgens in der Franzens­gasse beim Haus Nr. 56 gesehen.

Plötz­lich er­schienen im Gerichts­saal vier Jungen, zwischen 18 und 20 Jahren alt, mit folgender Aussage: Bis vier Uhr morgens wollten sie in einer Kneipe verbracht haben. Im reichlich angeheiterten Zustand seien sie vor dem Hause Nr. 56 aus­gerutscht, auf den „Allerwertesten“ gefallen und hatten mit ihren schweren Stiefeln unwillkürlich die zehn Fensterscheiben durch das Gitter hindurch zer­schlagen. Gelächter im ganzen Saal! Silviu, selbst ein Spaß­vogel und für jede neue Idee dankbar, begnügte sich aber mit dieser Erklärung und ver­zichtete auf jeden Schaden­ersatz. Mit derlei Erkennt­nissen verließen das Publikum, der Ange­klagte, der Kläger, die Zeugen und die Ge­schworenen das Hohe Gericht. Silviu hatte aber keine Ruhe, und so wandte er sich am Ausgang den vier Jungen höflich zu: „Mir könntet Ihr doch die Wahrheit sagen, wie sich alles zuge­tragen hat. Ich werde Euch nicht bestrafen.“

Die Jungen sahen sich fragend an. Der Coura­gier­teste von ihnen erklärte: „Dr. Sebari bezahlte uns ganz schön. Wir konnten dieser Ver­suchung nicht wider­stehen, und mit einem Eisen­knüppel schlugen wir Ihre Fenster­scheiben kurz und klein.“

Am folgenden Tag erschien die Zeitung mit einer Extra-Ausgabe. „Sensation! Bei Taufe des Sohnes von Dipl.-Ing. Dr. Silviu Dimi­trovici wurde auch die Puppe des Töchter­chens getauft und nachts alle Fenster­scheiben des Hauses von Un­be­kannten ein­ge­schlagen. Rache, Rache.“ Die Blätter wurden ver­kauft wie warme Semmeln.

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