Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

Worte
sind eben nur -
Worte.
(Genunea Muscu1us, 22.10.1977)

Ein Text aus dem Jahr 1978

Meiner Weisheit letzter Schluss

Online-Buch · E-Book

Genunea Musculus:
Erzählung „Meiner Weisheit letzter Schluss“

(publiziert bei · published by
 „BookRix“)
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Hier möchte ich Euch meine drolligen Erlebnisse erzählen, die mich überallhin begleitet haben wie gute Freunde - zu meiner und, ich hoffe, auch zu Eurer Freude.

Zögernd und schweren Herzens habe ich meine Familie nach achtwöchigem Besuch in Bukarest im Februar 1978 verlassen, um über Braşov, Arad und Wien nach Berlin zurück zu kommen. Diesmal fuhr der „Orient-Express“ aus Bukarest zu einer ungünstigen Tageszeit ab - um elf Uhr vormittags, weswegen mich nur wenige meiner Bekannten zum Bahnhof bringen konnten. Die anderen Lieben mussten, fleißig und bewusst, in Betrieben und Büros die Pläne für den Sozialismus erfüllen und übererfüllen.

Das Abteil war mit meinen vielen Koffern vollgestopft. Blumen, die ich bekam, konnte ich nur schwerlich unterbringen. Dann nahm ich meinen Fensterplatz ein. Dank der Gesprächigkeit und Aufrichtigkeit meiner Mitreisenden erfuhr ich zu meinem Entsetzen, dass der Zug aus ökonomischen Gründen nicht geheizt würde. Die Blumen hoben vor Freude graziös ihr Köpfchen und dufteten noch intensiver. Ich hingegen streichelte zufrieden meinen zweiten Pelzmantel, der mich vor dem Erfrieren retten würde. Angefüllt mit der menschlichen Wärme der letzten acht Wochen wartete ich auf die Eiszeit.

Die Pünktlichkeit der Abfahrt überraschte mich angenehm. Nach ungefähr zwanzig Minuten aber spürte ich eine Hitze von unten, die meine Stiefel durchdrang und sich langsam an meinen Waden entlang über den Nabel bis hin zur Speiseröhre erhob. Mich überfiel Atemnot, und mir wurde schwindlig. Ein technischer Fehler? Eine gutwillige aber gefährliche Überraschung? Dies waren meine Gedanken, bevor ich fast das Bewusstsein verlor. Mit langsamen Bewegungen haben wir uns, wie in Trance, von allem entblößt, was unsere erwärmten Körper umhüllte. Die Hitze wuchs ständig...

D a s   F e n s t e r!!  Unsere Rettung! Eine geniale Idee! Mit letzter Hoffnung stürzen wir hin, um es zu öffnen. Es war eingeklemmt, verrostet - oder hatte es einen anderen Defekt, den wir nicht mehr imstande waren zu analysieren. So wandten wir uns sofort dem Fenster am Korridor zu. Ein Wunder! Es lässt sich bis zur Hälfte öffnen! Wohltuend bläst frische Luft an. Zivilisiert stehen wir Schlange mit erhobenen Nasen, deren Spitzen nur mit einiger Mühe über die halbgeöffnete Fensterscheibe hinausgucken. Wir sind gerettet.

Aber das Fenster bleibt nicht offen. Mit einem angenehmen Schnarren rutscht es langsam, langsam wieder hinauf. Wir können nichts machen. Es will nicht! Nun sind wir Menschen ja von Natur aus erfinderisch und intelligent. Heureka! Wir halten es mit unserer Hand offen, mit der Geschicklichkeit unserer Finger, die eigens geschaffen wurden zu diesem Zweck. Eine empörte Stimme vom anderen Ende des Waggons versetzt uns in Panik - „Macht das Fenster sofort zu, mein Baby könne sich erkälten!!“. Die wachsende Schwüle hat die ganze Flora und Fauna unseres Abteils verwelken lassen.

Bevor der Zug in Braşov hielt, musste ich mir meine schmutzigen Finger waschen, die durch das Festhalten des gleitenden Fensters schwarz geworden waren. Erwärmt und verschwitzt schleppte ich mich zur Toilette. Verblüfft merkte ich, dass hier die Heizung nicht funktionierte. und die reine Luft mich wieder aufmunterte. Wasser fand ich aber keines, und so kehrte ich mit den Lungen voll Ozon in mein Abteil zurück. Die Hände wusch ich mir mit Bukarester Orangensaft.

In Braşov erwarteten mich Freunde und Bekannte sehnsüchtig am Bahnsteig. So streckte ich ihnen aus dem halboffenen Fenster meine heiße Hand mit West-Berliner Souvenirs entgegen. Ich wurde gebeten, meine Reise für vierundzwanzig Stunden zu unterbrechen, um ausgiebig bestaunt und befragt zu werden, und - natürlich - um die absolute Notwendigkeit so mancher Wünsche vorgetragen zu bekommen. Dazu ließ ich mich allerdings nicht überreden, weil in Braşov gerade ein Darmgrippevirus herumflanierte. So setzte ich meine Reise fort. Die Blicke meiner Freunde verfolgten mich hoffnungsvoll und zuversichtlich, bis wir uns aus den Augen verloren...

Die Wunschzettel, die sie mir diskret in die Hand gedrückt hatten, konnte ich jetzt in Ruhe lesen. Meine Freundin Titi zum Beispiel notierte auf vier Seiten, welche Traumwolle sie braucht... feine Wolle, dicke Wolle, gemischte Wolle, spröde Wolle in verschiedenen Farben - rot, hellrot, dunkelrot, zitronengelb, orange, kobaltblau, giftgrün, lila... für Strümpfe, Socken, Pullover, Handschuhe und Krawatten. Dann eine Sonderausstellung: kombiniertes Garn in beige-braun für das klassische Modell „2-rechts-2-links-in-der-Mitte-ein-Loch-2-rechts-2-links“ eines Sakkos für ihren geliebten Mann Jani. Die Mengen sind neben jeder Wollsorte in Gramm exakt angegeben, dazu auch die Dicke der Stricknadeln: für Janis Jackett besonderes dicke Nadeln, Nummer 4½, für seine Socken dünne, Nr. 2, für seine Unterhöhlen nicht zu dicken und nicht zu dünne, zwischen 2¼ und 3/8. Carmen wünscht sich außer 27 Lux-Seifen auf zwei Seiten Ersatzteile für das Auto ihrer Freundin. In Erwartung angekündigter Heizsparmaßnahmen, die während der Fahrt leider noch nicht realisiert waren, vergingen die vielen Stunden bis Arad leidlich langsam. Die heiße Luft strömte ohne jedes Mitleid aus. Mein einziges Refugium war das Klo, wo alles intakt war - das Fenster nicht verschließbar, die Heizung kaputt.

Ohne Verspätung kamen wir um 22.00 Uhr in Arad an. Der Zufall wollte es, dass die Tür unseres Waggons gerade meinem Cousin, der auf mich gewartet hatte, stehenblieb. Seit vierzig Jahren hatten wir uns nicht mehr gesehen, und trotzdem erkannten wir uns gleich mit Freude. Durch verdunkelte Straßen (Phänomen Ökonomie) fuhren wir zu seiner Wohnung. Eine, sympathische Stimme begrüßte mich vor dem Haus - seine Frau Livia. Der triumphale Empfang bestand aus drei Torten, verschiedenen Nusspusserln, Salaten, Bier, türkischem Honig und Tees. Die Zentralheizung gab eine angenehme Zimmertemperatur. In freundlicher Atmosphäre unterhielten wir uns bis vier Uhr morgens. Vormittags um elf Uhr stand ich auf. Bad und Frühstück waren vorbereitet. Mein Cousin Coca und Livia drehten sich um mich und wussten nicht, was sie mir noch bieten könnten, damit ich mich bei ihnen wohlfühlen soll. Bei Coca wunderte mich dies nicht; ich spürte, dass Gefühle unserer Jugendzeit wieder erwachten. Livias Fürsorglichkeit hingegen erstaunte mich, ich wusste, dass sie gerade auf mich besonders eifersüchtig war - auf mich, Cocas erste Jugendliebe. Doch nach dem Mittagessen klärte sich dieses Mysterium. Beide führten mich in den Keller, wo sich die elektrische Zentralheizung befand. Livia zeigte mir eine kleine, zur Zeit noch nicht g a n z lebensunfähige Schraube. Von ihr hängt der ganze Mechanismus dieses Wunderkomplexes ab. Mit viel Geld und Beziehungen war die Heizung aus der BRD verschafft worden. Aufgeklärt und ermutigt habe ich die für mich so günstige Situation erfasst. Trotzdem wurde ich mit Coca nicht eine einzige Minute alleingelassen. Livia schlich auf Socken herum, ohne uns jedoch bei Verbotenem zu ertappen. Die sterbende, westdeutsche Schraube löste in der ganzen Familie eine existentialistische Atmosphäre aus - „Haben oder nicht haben“ - Wärme! Ermuntert hiervon tanzte ich am letzten Abend einen temperamentvollen, verführerischen Tanz. Arad gefiel mir - eine saubere kleine Grenzstadt ohne Viren.

Die Weiterfahrt nach Wien gestaltete sich katastrophal. Schlafwagen gab es nicht, und der Zug fuhr frühmorgens um 4.30 Uhr ab. Um 3.45 Uhr holte uns das Taxi. Livia umarmte mich innig, und ich versprach ihr natürlich, die Schraube sofort zu schicken. Da ich unter einem günstigen Stern geboren bin, hatte ich auch diesmal Glück, denn auf der Fahrt zum Bahnhof versank unser Taxi in einer Grube voller Schlamm und konnte nicht mehr heraus. Unsere Rettung war die rumänische Findigkeit. Voraussehend und sachverständig hatte man an diesem gefährdeten Ort auf dem Bürgersteig eine Telefonzelle aufgestellt und - welch Wunder! - der Apparat funktionierte! So kam nach nur sechs Minuten ein anderes, intaktes Taxi. Mit Cocas Hilfe wurden die Koffer zügig in den Wagen verladen. Zuversichtlich stiegen wir ein, denn der Bahnhof befand sich nur zehn Minuten von der Dreckgrube entfernt. Mit dröhnendem Getöse sprang der Motor an und der Kofferraumdeckel auf. Wahrscheinlich als Kettenreaktion, sprangen automatisch auch unsere Türen auf. Der Chauffeur, ruhig und über unser Erschrecken verwundert, erklärte, dass sein Wagen eben so sei. Falls wir mit geschlossenen Türen zu fahren wünschen, sollten wir diese mit unseren Finger zuhalten. An erfinderischem Geist fehlte es unserem Kraftfahrer auch nicht. Er hatte an die Griffe beider Türen je eine Schnur geknotet; so konnten sich seine Fahrgäste praktisch und komfortabel bedienen. Ich zog an der rechten Schnur, Coca an der linken, und die Türen waren quasi geschlossen. Am Bahnhof erwarteten mich vier Zöllner. Mit diktatorischem Ton baten sie mich in ein Separée. Die Koffer wurden geöffnet und durchstöbert. Man gab mir zu verstehen, dass ich einen meiner Pelzmäntel zurücklassen müsse. Im ersten Moment glaubte ich an einen dummen Spaß und blickte den Zollbeamten erstaunt an. „Ja ja“, bestätigte er, „einer muss hierbleiben - egal welcher.“ „Weshalb?“, fragte ich lakonisch. „Sie sind doch nicht mit zwei Pelzmänteln hergekommen - einen habe Sie bei uns gekauft, also gehört er uns.“ Ich widersprach, „Es ist nicht wahr, beide habe ich Berlin gekauft.“ „Was für Beweise haben Sie?“, und er wurde noch lauter und aggressiver. „Das rumänische Generalkonsulat und Berlin ist über meine zwei Mäntel informiert“, entgegnete ich. Der Zug fuhr ein. „Packen Sie die Sachen - aber das nächste Mal kommen Sie nicht mit zwei Pelzmänteln.“ „Ganz bestimmt nicht - das nächste Mal komme ich im Juli.“

Der ganze Zug war leer. Mit den beiden legendären Mänteln deckte ich mich zu und schlief bis Wien. Meine Tante Maxi, einst Opernsängerin, fand ich im Bett mit einer Darmgrippe vor. Mein Vetter Seppi war über meine Angst vor Ansteckungen im Bilde und verfrachtete mich ins fünfte Zimmer der Wohnung, weit entfernt vom Infektionsherd. Zu meiner Beruhigung offerierte er mir ein weiß-rosa-getupftes Porzellan-Nachttöpfchen. Am zweiten Tag erreichte mich ein Telegramm aus Bayern von einer guten Freundin mit der traurigen Nachricht vom plötzlichen Ableben ihres Mannes. Sofort rief ich sie an, wollte zu ihr fahren, um sie zu trösten. Ihr Stimme aber klang optimistisch. Sie lehnte meine moralische Hilfe ab. Es sei schließlich normal, mit 83 Jahren zu sterben, meinte sie und versicherte mir, die Einäscherung sei in den besten technischen Condition durchgeführt worden und sie könne nur mit drei Renten ihr Leben allein genießen. Für übermorgen habe sie schon eine Vergnügungsreise nach Tirol gebucht. In Wien blieb ich noch drei Tage. Meine Tante Maxi und Seppi baten mich, noch ein Stück von mir aus dem Rumänischen ins Deutsche zu übersetzen. Sie wollten meine neuen geistigen Funken kennenlernen.

Dann fuhr ich in mein geliebtes Berlin.



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