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Lilly brauchte wieder einmal Abwechslung, musste „ausfliegen“. Nach siebzehn gemeinsamen Jahren traten auch bei ihr die ersten Ehe-Degenerations-Erscheinungen auf. Auch spielte sie nicht mehr so gern Klavier wie einst. So suchte sie nun die Annäherung zu ihren Kindern – sie brauchte ihre Liebe. Dazu war es aber bereits zu spät; die befremdeten Kinder hatten sich emotional längst von ihr abgewandt. Silviu hingegen gab ihr sein ganzes Verständnis, doch seine väterlich umhüllende Liebe langweilte Lilly nur. So „musste“ etwas Neues geschehen, das sie mit Begeisterung erfüllen würde.
Lilly beschloss, nach Wien zu fahren, um an der Schule von Max Reinhardt die Theaterkunst zu studieren. Doch nur ein Semester lang bereitete ihr die Arbeit dort Freude, dann begann sie, als Journalistin tätig zu werden, unterbrach aber auch dieses nach kurzer Zeit, um sich am Gewandhaus zu Leipzig weiter als Pianistin ausbilden zu lassen. Prof. Hermann Abendroth war ihr Lehrer, und auch in seiner Familie empfing man Lilly als außergewöhnliches Talent. So hatte sie auch in der Leipziger Thomaskirche Werke von Johann Sebastian Bach gespielt.
Eine Gallenkolik im Jahre 1936 zwang Lilly, ein bereits angekündigtes Klavierkonzert zu verschieben. Silviu reiste sofort nach Leipzig, wo die Arme operativ von 36 Gallensteinen befreit wurde. Schon nach vier Wochen konnte dann das Konzert stattfinden und wurde ein voller Erfolg. Man übertrug es im Rundfunk; stolz lauschten Familie und Freunde in Czernowitz ihrem Spiel. Leipzig eroberte Lillys Herz; sie gewann viele Freunde und verlebte mit ihnen und ihrer Musik die erste verspätete Jugend. Oft versetzten sie die Bachschen Orgelkonzerte in der Thomaskirche in eine neue Traumwelt.
Wenn sie dann aber erwachte, merkte sie, dass ihr etwas Undefinierbares fehlte. Ob Eros ihren Gedanken und Empfindungen lauschte und ihr zur Hilfe eilen würde...? Jedenfalls saß eines Abends in der Thomaskirche neben Lilly ein Engel auf der Bank – ein Engel, verkörpert in einem ganz jungen, blassen Mann im dunklen Anzug. Lilly drehte ihren blonden Lockenkopf nach links, um ihn besser wahrzunehmen – als Mensch zu ervkennen und nicht als etwas Göttliches. ‚Er ist doch ein Engel‘ – dunkelblondes Haar, ein ovales. längliches Gesicht, fein geschnittene Lippen und auf der Nase eine dicke Brille. ‚Warum soll es nicht auch einen kurzsichtigen Engel geben?‘, ermutigte sie sich.
Er drehte seinen Kopf verlegen aus Lillys Blick hinunter zum kleinen Gesangbuch. Die „Eva“ fühlte sich verletzt, gab aber nicht auf und blickte ihn mit ihren großen, braunen Augen verwundert, aber entzückt an. Mit lautem Krach fiel sein Liederbüchlein auf den Boden und rutschte bis zur vordersten Bank. Nur mit Mühe konnte er es erreichen. Erfreut über diese Errungenschaft trafen seine Augen Lillys verschmitztes Gesicht. Dann begannen beide, eifrig zu singen. „Evas Apfel“ siegte, wie „damals“. Und als sie die Kirche verließen, fühlten sie einander näher. Die kalte Luft löste beim „Engel“ ein ununterbrochenes Niesen aus, und Lilly konnte so endlich von Herzen lachen.
Der junge Mann konnte sich nur schwer verstellen, denn kaum öffnete er den Mund, rauschten die Niestöne wie ein Wasserfall hinaus. Lilly begnügte sich mit „Jan“ und stellte sich auch nur mit ihrem Vornamen vor. „Dieser ekelhafte Schnupfen hinderte mich heute daran, zu spielen.“
„Was ‚zu spielen‘ – Fußball, Eishockey oder Rommé?“, entgegnete Lilly interessiert.
„Nein, Orgel, in der Thomaskirche, ich bin hier Organist.“ Er wollte wieder seinen Familiennamen herausbringen, was aber wegen der Erkältung wieder nicht gelang. Beide nahmen den gleichen Weg, und als sie vor Lillys Pension stehenblieben, um sich zu verabschieden, meinte Jan: „Hier wohne ich auch.“
In der warmen Halle unterhielten sie sich bis in die späten Nachtstunden. Jan war Schwede, aus Stockholm, und studierte am Gewandhaus Musik, Orgelmusik. Ein Semester fehlte ihm noch zum Diplom. In den Winterferien war er an der Thomaskirche als Organist engagiert. „Wie alt sind Sie?“, fragte Lilly. „Dreiundzwanzig – und schon kurzsichtig! Ohne Brille kann ich fast nichts sehen“, antwortete Jan amüsiert.
Auch Lilly begann, über ihr Studium und ihr Heimatland zu erzählen. Ihr Alter jedoch, ihren Mann und ihre Kinder verschwieg sie diskret. Sie wusste, dass sie bei weitem jünger aussah als sie war. So passierte es auf Reisen oft, dass man Silviu für Lillys Vater hielt, und in Italien hatte sich einmal ein „feuriger Sizilianer“ in sie verliebt und bei Silviu um ihre Hand angehalten. „Sie sind doch auch in meinem Alter“, mutmaßte Jan. „Natürlich“, entgegnete Lilly, „vielleicht ein paar Monate älter oder jünger...“
Beide gingen guter Laune zu Bett – getrennte Betten, die Zimmer aber nicht allzu weit voneinander entfernt und die Herzen wohl ganz nah. Lilly glaubte, in Jan einen gebildeten, netten Studienfreund gefunden zu haben, mit ihm in den verbleibenden sechs Monaten Konzerte besuchen zu können und die Freiheit schön zu verleben. Die Liebe spielte ihnen aber ein Schnippchen, denn beide verliebten sich ineinander sehr. Sich ihrer und Jans Liebe absolut sicher, berichtete ihm Lilly die Wahrheit über Haus und Familie. Spontan machte Jan ihr einen Heiratsantrag und beschloss, mit Lilly nach Czernowitz zu fahren, um dort alles mit Silviu zu besprechen.
Doch erst einmal erreichte das Haus Dimitrovici aus Stockholm die Nachricht, dass Lilly und Jan aus Leipzig nach Schweden gereist waren, zu den „Schwiegereltern“. Die zeigten sich von Lillys Erscheinung, ihrem Klavierspiel und ihrem Erzählen restlos begeistert und konnten sich eine so „jungfräuliche“ Schwiegertochter sehr gut vorstellen.
Nach Leipzig zurückgekehrt, musste sich Jan seinen letzten Prüfungen widmen. Lilly beobachtete mit Entsetzen, wie die jüdischen Künstler und Intellektuellen aus ihrer Pension flüchteten und die kommende Katastrophe prophezeiten...
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