Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

über Menschen und Tiere werde ich
Euch erzählen, die mir als
Persönlichkeiten begegnet sind...
Genunea Musculus

Episode aus dem Roman „Genunea. Czerno­witz liegt nicht nur in der Buko­wina“

Nuni und die Schule

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Im Jahre 1935 war Rondella schon zu einer vierzehn­jährigen kleinen Dame heran­gewachsen und im Laufe der Zeit schlan­ker geworden. Sie schüttelte sich deshalb neben den Pfunden auch den be­zeich­nenden Namen „Rondella“ ab. Fortan nannte man sie „Nuni“ oder auch „Nunica“ – ihr eigentlicher Name „Genunea“ war wohl doch etwas zu lang. Durch ihre runden Formen wirkte sie älter und reifer. Ihre großen, braunen Augen und ihr hell­blondes, gewelltes Haar bildeten eine schöne Farb­kombina­tion, die gut zu ihren rosa­roten Bäckchen und ihrem runden Gesicht passte. Hübsche Kleider bestellte man für sie aus Wien, und auf der Straße drehten sich so manche Männerköpfe nach ihr um. Dadurch wurde sie noch eitler, als sie es ohnehin schon war und begann, Ab­mage­rungs­kuren durch­zuführen. Ihr Vor­bild war natürlich Lilly.

Wie sie begann Nunica mit der „Zitronen­kur“ und ver­zichtete für eine Woche auf jegliche Süßigkeiten. So schmolzen zwei ihrer Kilos dahin, und dieses Opfer wurde durch noch mehr Kopf­umdrehen der heim­lichen Straßen­verehrer belohnt.

Nunica suchte Anklang bei Freunden; zuhause bekam sie außer materi­eller Ver­sorgung weder Liebe noch Verständnis. Man gängelte und tadelte sie wo nur möglich. Nunica sah Lilly als eine ent­artete Mutter an. Silviu, der so hilfs­bereite Mensch, ver­setzte Nunica immer in Angst mit seinen Drohungen, wie etwa: „Wenn Du nicht gute Noten nach Hause bringst, schicken wir Dich ins Internat. Dort macht man einen Menschen aus Dir. Und nach Hause kommst Du nur zweimal im Jahr!“ Im Gegen­satz zu ihrem wiss­begieri­gen Bruder Bobby wurde Nunica immer des­interes­sierter an ihrer Schule. Sie lernte ungern und brachte nur mittelmäßige Zeug­nisse nach Hause. Doch lernte sie immer gerade so viel, dass sie nach Abschluss eines Schul­jahres versetzt wurde, denn es wäre für sie sehr lästig gewesen, in den Sommer­ferien für einen „Nachtrag“ (eine Nachprüfung) zu lernen oder gar ein Schuljahr zu wiederholen.

Der liebe Gott, an den sie noch ein ganz klein wenig glaubte, hatte sie nicht mit der wissen­schaft­lichen Genialität ihres Brüderchens beschenkt, doch war Nunica deswegen nie eifersüchtig auf ihn. Er blieb ihre große Liebe. Etwas hatte ihr der liebe Gott aber sehr aus­geprägt mit­gegeben: das Tanzen, das Singen und das Theater­spielen! Ihr erstes Publikum waren die be­nach­barten Mieter. Nunica brachte das Grammo­phon hinaus, be­nutzte die Garage neben dem langen Parterre­haus als Garde­robe und Umkleide­raum, und dann tanzte sie zu Schellack­platten­musik vor dieser Garage auf der betonier­ten ein­fahrt im Hof. Ihre Zuschauer saßen derweil auf den Bänken neben dieser „Bühne“.

Auch konnte sie stundenlang vor dem Spiegel im grünen Salon ihre Künste entfalten. Ihr Publikum hier: Bobby. So vergaß sie das Lernen, die harten Holzbänke der Schule und Silviu. Das Tanzen ver­setzte sie in ihr Element, und der ein­zige Zuschauer, Bobby, bewun­derte sie auf­richtig. Nunica beschäftigte sich mit hoch­fliegen­den Zukunfts­plänen. Sie wollte Schau­spielerin oder Ballett­lehrerin werden. Kinder hin­gegen wollte sie nie, zumindest keine eigenen. Die Geburt erschien ihr unnatürlich und un­be­greif­lich. Außerdem empfand sie das Leben als gar nicht lebens­wert. Krankheiten, die schlechten Menschen, die böse Schule, und was noch alles Schlimmes hinzu­kommt.

Mehr und mehr belastete die Schule Nunicas Aktivitäten. Letztere mochte sie aber nicht entbehren und ver­zich­tete nonchalant auf die erstere. So wurde sie dank auto­didak­tischer Erziehung und ihrer Willens­kraft eine profi­lierte oder sogar die profi­lierteste Schul­schwänzerin. Niemand konnte es ihr hierin gleichtun. Nunica, das Muster, das unübertroffene Schwänzer-Genie! Um ihren Inte­ressen und Be­fähi­gungen nach­zu­gehen, brauchte Nunica Geld. Taschen­geld gab es nicht, und so blieb für sie nur Hildes Kostgeld – für Nunica die ein­zige Geldquelle. Ihre liebe Art, sich ein­zu­schmei­cheln, erweichte fast jeder­manns Herz, und so auch Hildes, dank deren Verständnis kein Kinofilm von Nunica ungesehen blieb. Nunica sang wie Martha Eggert, tanzte wie Marika Rökk und „starb“ wie Greta Garbo. Von so vielen Dar­bietungen beein­druckt und erschöpft, blieb das Lernen im Schatten des Gehirns. Jeden Morgen aber musste sie den ver­hassten Schul­weg ein­schlagen.

Silviu weckte sie er­barmungs­los und schaute ihr noch auf dem Schul­weg nach. Doch wie konnte sie nur die Klasse betreten, so un­vorberei­tet und der Gefahr aus­gesetzt, viele schlechte Noten zu bekommen? Sie betrat das Schulgebäude nicht, sondern machte einen großen Bogen und lief singend dem Dominik-Park entgegen. In Beglei­tung der Tannen­bäume und Eich­hörn­chen spazierte sie vier bis fünf Stunden vergnügt herum und legte zuweilen kleine Ruhe­pausen auf den grün­gestrich­enen Bänken ein. Hier begegnete sie oft Hozu, dem Hund, der stolz mit er­hobenem Schwanz mit seiner Freundin Diana herum­prome­nier­te. Nunica näherte sich ihm, doch Hozu bemerkte sie vor lauter Flirten nicht.

Sobald er ihre Stimme wahrnahm, wandelte er sich, wie er es in pein­lichen Situa­tionen immer tat, zum „Krüppel“, indem er sein rechtes Bein hob, sein linkes Auge zukniff und mit ein­ge­zogenem Schwanz Nunica entgegen­humpelte. „Schäm Dich, marsch, sofort nach Hause!“, schrie Nunica ihn an. Ver­legen schlich er an ihr vorbei, drehte sich dann nochmal um, hob seinen buschigen Schwanz und lief davon. Nunica blieb nach­denk­lich zurück. ,Den Ausreißer Hozu habe ich in fla­granti erwischt. Was würde er aber über mich denken – um diese Zeit im Park zu sein und nicht in der Schule?‘

Als Lilly und Silviu wieder ein­mal auf Reisen waren, wollte es der glückliche Zufall, dass gerade in dieser Zeit eine Bukarester Revue in Czerno­witz gastierte. Sie begann um acht Uhr abends und war für Schüler streng­stens ver­boten. Damit sie nicht von „Fein­den“ gesehen würde, besorgte Nunica sich eine Karte in der zweiten Galerie des Theaters. Ein Opern­glas ermöglichte ihr die gute Sicht, und von den fast nackten Tänze­rinnen ging ihr nichts verloren. Doch am nächsten Tag rief die Schul­direktorin Nunica zu sich, und nach einer Moralpredigt wurde sie für zwei Wochen vom Schul­unterricht aus­ge­schlossen.

,Zwei Wochen Ferien!‘, sagte sich Nunica im Stillen, ‚Nicht in die Schule gehen müssen, lange schlafen, täglich Kinob­esuche und die Eltern verreist – gibt es über­haupt etwas Schöneres?‘. Wenn auch ungern, so lernte Nunica doch leicht. Obwohl ihr außer Mathematik und später Philo­sophie eigent­lich nichts gefiel, brachte es ihr er­finde­rischer Geist soweit, dass sie zur Stunden-Schwänzerin wurde. Sie musste nicht mehr so oft in den Dominik-Park wandern und fehlte nur noch bei den Fächern, für die sie keine Lust zum Lernen aufbrachte.

Im Klassen­zimmer wurden die Mäntel hinter einer Trenn­wand aufgehängt. Dort stand auch eine Bank, die vom Lehrer­pult nicht ein­zusehen war. Im tiefsten Schlaf überbrückte sie auf dieser Bank die vielen für sie un­interessan­ten Schulstunden. Keine Lehrerin kam ihr auf die Schliche, und Nunica träumte süß auf den Schuluniform-Mänteln. Die Klingel weckte sie pünktlich und zuverlässig zur Pause. Fand der Unterricht in einem anderen Klassen­raum statt – was selten vorkam – verkroch sich Nunica in die an­grenzen­de Garde­roben­kammer, nicht ohne sich vorher aus dem Klassen­zimmer eine Ruhebank „aus­zu­borgen“.

Hier lag sie im Schlaf, als sich eines Tages der Latein­lehrer Gheorghiu an die Tür zur Garde­roben­kammer lehnte, diese prompt aufsprang und den Latein­dozenten rücklings in die Kammer fallen ließ. Die Mitschülerinnen, die Nunica nie ver­petzten, um­kreisten ihn sofort, damit er nicht merken sollte, wen er gerade aus dem Schlaf gepoltert hatte.

Nunica war beliebt in der Klasse, weil sie niemanden die Freude am Lernen und den Spaß an der Diszi­plin nehmen wollte. Aller­dings wusste sie nichts anzufangen mit den Mädchen aus „besserem Hause“, denn sie mussten ja artige und fleißige „Büffle­rinnen“ sein. Sie fühlte sich mehr zu den ärmeren Schülerinnen hingezogen, die im Inter­nat wohnen mussten und die sich von ihr auch zu Dominik-Park-Ex­kur­sionen verführen ließen. Nunica kamen so die vielen Schwänz-Stunden nicht mehr allzu lang vor.

Mit Chemie kämpfte Nunica sehr, was nicht zuletzt auch an der Lehrerin lag, die nie ein Lächeln über ihre Lippen brachte, keine päda­go­gi­schen Fähigkeiten besaß und so sehr un­sympa­thisch war. Am Ende des Schul­jahres gab sie Nunica im Zeugnis eine „Vier“, die schlech­teste Note. Das hätte bei Silviu Wutanfälle ausgelöst und auf Nunicas Po blaue Flecke! Wie konnte sie sich und Silviu davor bewahren?

Auf dem Markt­platz befand sich das Schreib­waren­geschäft des Leo König, der sich mit den neuen Er­kennt­nissen der Chemie und Papier­technik befasste. Bei ihm ent­deckte Nunica ein Fläschchen mit der Aufschrift „Tinten­tod“. Die Zeugnis­papier­qualität eignete sich hervor­ragend für dieses morali­sche Experi­ment. Die „Vier“ schrieb Nunica in eine „Drei“ um und legte das Zeugnis so ihrem Vater zur Unter­schrift vor. Anschließend erfolgte die Rückwandlung zur „Vier“ in Chemie, damit sich auch die Rückgabe problem­los ge­stal­tete.

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