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Im Jahre 1935 war Rondella schon zu einer vierzehnjährigen kleinen Dame herangewachsen und im Laufe der Zeit schlanker geworden. Sie schüttelte sich deshalb neben den Pfunden auch den bezeichnenden Namen „Rondella“ ab. Fortan nannte man sie „Nuni“ oder auch „Nunica“ – ihr eigentlicher Name „Genunea“ war wohl doch etwas zu lang. Durch ihre runden Formen wirkte sie älter und reifer. Ihre großen, braunen Augen und ihr hellblondes, gewelltes Haar bildeten eine schöne Farbkombination, die gut zu ihren rosaroten Bäckchen und ihrem runden Gesicht passte. Hübsche Kleider bestellte man für sie aus Wien, und auf der Straße drehten sich so manche Männerköpfe nach ihr um. Dadurch wurde sie noch eitler, als sie es ohnehin schon war und begann, Abmagerungskuren durchzuführen. Ihr Vorbild war natürlich Lilly.
Wie sie begann Nunica mit der „Zitronenkur“ und verzichtete für eine Woche auf jegliche Süßigkeiten. So schmolzen zwei ihrer Kilos dahin, und dieses Opfer wurde durch noch mehr Kopfumdrehen der heimlichen Straßenverehrer belohnt.
Nunica suchte Anklang bei Freunden; zuhause bekam sie außer materieller Versorgung weder Liebe noch Verständnis. Man gängelte und tadelte sie wo nur möglich. Nunica sah Lilly als eine entartete Mutter an. Silviu, der so hilfsbereite Mensch, versetzte Nunica immer in Angst mit seinen Drohungen, wie etwa: „Wenn Du nicht gute Noten nach Hause bringst, schicken wir Dich ins Internat. Dort macht man einen Menschen aus Dir. Und nach Hause kommst Du nur zweimal im Jahr!“ Im Gegensatz zu ihrem wissbegierigen Bruder Bobby wurde Nunica immer desinteressierter an ihrer Schule. Sie lernte ungern und brachte nur mittelmäßige Zeugnisse nach Hause. Doch lernte sie immer gerade so viel, dass sie nach Abschluss eines Schuljahres versetzt wurde, denn es wäre für sie sehr lästig gewesen, in den Sommerferien für einen „Nachtrag“ (eine Nachprüfung) zu lernen oder gar ein Schuljahr zu wiederholen.
Der liebe Gott, an den sie noch ein ganz klein wenig glaubte, hatte sie nicht mit der wissenschaftlichen Genialität ihres Brüderchens beschenkt, doch war Nunica deswegen nie eifersüchtig auf ihn. Er blieb ihre große Liebe. Etwas hatte ihr der liebe Gott aber sehr ausgeprägt mitgegeben: das Tanzen, das Singen und das Theaterspielen! Ihr erstes Publikum waren die benachbarten Mieter. Nunica brachte das Grammophon hinaus, benutzte die Garage neben dem langen Parterrehaus als Garderobe und Umkleideraum, und dann tanzte sie zu Schellackplattenmusik vor dieser Garage auf der betonierten einfahrt im Hof. Ihre Zuschauer saßen derweil auf den Bänken neben dieser „Bühne“.
Auch konnte sie stundenlang vor dem Spiegel im grünen Salon ihre Künste entfalten. Ihr Publikum hier: Bobby. So vergaß sie das Lernen, die harten Holzbänke der Schule und Silviu. Das Tanzen versetzte sie in ihr Element, und der einzige Zuschauer, Bobby, bewunderte sie aufrichtig. Nunica beschäftigte sich mit hochfliegenden Zukunftsplänen. Sie wollte Schauspielerin oder Ballettlehrerin werden. Kinder hingegen wollte sie nie, zumindest keine eigenen. Die Geburt erschien ihr unnatürlich und unbegreiflich. Außerdem empfand sie das Leben als gar nicht lebenswert. Krankheiten, die schlechten Menschen, die böse Schule, und was noch alles Schlimmes hinzukommt.
Mehr und mehr belastete die Schule Nunicas Aktivitäten. Letztere mochte sie aber nicht entbehren und verzichtete nonchalant auf die erstere. So wurde sie dank autodidaktischer Erziehung und ihrer Willenskraft eine profilierte oder sogar die profilierteste Schulschwänzerin. Niemand konnte es ihr hierin gleichtun. Nunica, das Muster, das unübertroffene Schwänzer-Genie! Um ihren Interessen und Befähigungen nachzugehen, brauchte Nunica Geld. Taschengeld gab es nicht, und so blieb für sie nur Hildes Kostgeld – für Nunica die einzige Geldquelle. Ihre liebe Art, sich einzuschmeicheln, erweichte fast jedermanns Herz, und so auch Hildes, dank deren Verständnis kein Kinofilm von Nunica ungesehen blieb. Nunica sang wie Martha Eggert, tanzte wie Marika Rökk und „starb“ wie Greta Garbo. Von so vielen Darbietungen beeindruckt und erschöpft, blieb das Lernen im Schatten des Gehirns. Jeden Morgen aber musste sie den verhassten Schulweg einschlagen.
Silviu weckte sie erbarmungslos und schaute ihr noch auf dem Schulweg nach. Doch wie konnte sie nur die Klasse betreten, so unvorbereitet und der Gefahr ausgesetzt, viele schlechte Noten zu bekommen? Sie betrat das Schulgebäude nicht, sondern machte einen großen Bogen und lief singend dem Dominik-Park entgegen. In Begleitung der Tannenbäume und Eichhörnchen spazierte sie vier bis fünf Stunden vergnügt herum und legte zuweilen kleine Ruhepausen auf den grüngestrichenen Bänken ein. Hier begegnete sie oft Hozu, dem Hund, der stolz mit erhobenem Schwanz mit seiner Freundin Diana herumpromenierte. Nunica näherte sich ihm, doch Hozu bemerkte sie vor lauter Flirten nicht.
Sobald er ihre Stimme wahrnahm, wandelte er sich, wie er es in peinlichen Situationen immer tat, zum „Krüppel“, indem er sein rechtes Bein hob, sein linkes Auge zukniff und mit eingezogenem Schwanz Nunica entgegenhumpelte. „Schäm Dich, marsch, sofort nach Hause!“, schrie Nunica ihn an. Verlegen schlich er an ihr vorbei, drehte sich dann nochmal um, hob seinen buschigen Schwanz und lief davon. Nunica blieb nachdenklich zurück. ,Den Ausreißer Hozu habe ich in flagranti erwischt. Was würde er aber über mich denken – um diese Zeit im Park zu sein und nicht in der Schule?‘
Als Lilly und Silviu wieder einmal auf Reisen waren, wollte es der glückliche Zufall, dass gerade in dieser Zeit eine Bukarester Revue in Czernowitz gastierte. Sie begann um acht Uhr abends und war für Schüler strengstens verboten. Damit sie nicht von „Feinden“ gesehen würde, besorgte Nunica sich eine Karte in der zweiten Galerie des Theaters. Ein Opernglas ermöglichte ihr die gute Sicht, und von den fast nackten Tänzerinnen ging ihr nichts verloren. Doch am nächsten Tag rief die Schuldirektorin Nunica zu sich, und nach einer Moralpredigt wurde sie für zwei Wochen vom Schulunterricht ausgeschlossen.
,Zwei Wochen Ferien!‘, sagte sich Nunica im Stillen, ‚Nicht in die Schule gehen müssen, lange schlafen, täglich Kinobesuche und die Eltern verreist – gibt es überhaupt etwas Schöneres?‘. Wenn auch ungern, so lernte Nunica doch leicht. Obwohl ihr außer Mathematik und später Philosophie eigentlich nichts gefiel, brachte es ihr erfinderischer Geist soweit, dass sie zur Stunden-Schwänzerin wurde. Sie musste nicht mehr so oft in den Dominik-Park wandern und fehlte nur noch bei den Fächern, für die sie keine Lust zum Lernen aufbrachte.
Im Klassenzimmer wurden die Mäntel hinter einer Trennwand aufgehängt. Dort stand auch eine Bank, die vom Lehrerpult nicht einzusehen war. Im tiefsten Schlaf überbrückte sie auf dieser Bank die vielen für sie uninteressanten Schulstunden. Keine Lehrerin kam ihr auf die Schliche, und Nunica träumte süß auf den Schuluniform-Mänteln. Die Klingel weckte sie pünktlich und zuverlässig zur Pause. Fand der Unterricht in einem anderen Klassenraum statt – was selten vorkam – verkroch sich Nunica in die angrenzende Garderobenkammer, nicht ohne sich vorher aus dem Klassenzimmer eine Ruhebank „auszuborgen“.
Hier lag sie im Schlaf, als sich eines Tages der Lateinlehrer Gheorghiu an die Tür zur Garderobenkammer lehnte, diese prompt aufsprang und den Lateindozenten rücklings in die Kammer fallen ließ. Die Mitschülerinnen, die Nunica nie verpetzten, umkreisten ihn sofort, damit er nicht merken sollte, wen er gerade aus dem Schlaf gepoltert hatte.
Nunica war beliebt in der Klasse, weil sie niemanden die Freude am Lernen und den Spaß an der Disziplin nehmen wollte. Allerdings wusste sie nichts anzufangen mit den Mädchen aus „besserem Hause“, denn sie mussten ja artige und fleißige „Büfflerinnen“ sein. Sie fühlte sich mehr zu den ärmeren Schülerinnen hingezogen, die im Internat wohnen mussten und die sich von ihr auch zu Dominik-Park-Exkursionen verführen ließen. Nunica kamen so die vielen Schwänz-Stunden nicht mehr allzu lang vor.
Mit Chemie kämpfte Nunica sehr, was nicht zuletzt auch an der Lehrerin lag, die nie ein Lächeln über ihre Lippen brachte, keine pädagogischen Fähigkeiten besaß und so sehr unsympathisch war. Am Ende des Schuljahres gab sie Nunica im Zeugnis eine „Vier“, die schlechteste Note. Das hätte bei Silviu Wutanfälle ausgelöst und auf Nunicas Po blaue Flecke! Wie konnte sie sich und Silviu davor bewahren?
Auf dem Marktplatz befand sich das Schreibwarengeschäft des Leo König, der sich mit den neuen Erkenntnissen der Chemie und Papiertechnik befasste. Bei ihm entdeckte Nunica ein Fläschchen mit der Aufschrift „Tintentod“. Die Zeugnispapierqualität eignete sich hervorragend für dieses moralische Experiment. Die „Vier“ schrieb Nunica in eine „Drei“ um und legte das Zeugnis so ihrem Vater zur Unterschrift vor. Anschließend erfolgte die Rückwandlung zur „Vier“ in Chemie, damit sich auch die Rückgabe problemlos gestaltete.
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