Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

über Menschen und Tiere werde ich
Euch erzählen, die mir als
Persönlichkeiten begegnet sind...
Genunea Musculus

Episode aus dem Roman „Genunea. Czerno­witz liegt nicht nur in der Buko­wina“

Nora Frehmar

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Im Jahre 1931 be­schlossen die Eltern, Teta zu kün­di­gen und eine Gouver­nante aus Wien für die Kinder ein­zu­stellen. Sie musste perfekt Fran­zö­sisch sprechen, damit die Kinder eine Fremd­sprache er­lernen, außer­dem sehr gute Manieren haben und etwas von Kunst ver­stehen. Die Ver­ab­schiedung von Teta fiel allen schwer; fünf lange Jahre hatte sie schließ­lich im Hause gelebt und gearbeitet. Als Abschiedsgeschenk bekam sie eine Silber­besteck­garnitur für zwölf Personen. Die Eltern schrieben wieder nach Wien, diesmal aber an eine Gouver­nanten­schule, an der auch Fremd­sprachen gelehrt wurden. Diese Schule sandte der Familie Dimi­tro­vici sofort ihren Angebots­prospekt zu. Auf jeder Seite der Broschüre befanden sich Lebenslauf, Ausbildung, eine Auf­zählung der beherrschten Fremd­sprachen und die Foto­grafie einer Gouver­nante. Die Kinder durften bei der Auswahl mitentscheiden und suchten sich rationalerweise die Hübscheste der Damen aus. Und da die Aus­er­wählte zwanzig Jahre im selben Hause tätig gewesen war, schien sie Lilly und Silviu zuverlässig. So schickten sie der Gouver­nanten­schule einen Eilbrief mit der Bitte um ihre baldige Ankunft.

Nach zehn Tagen erschien Nora Frehmar an der rumänischen Grenze. Von den Zoll­beamten erfuhr Dr. Dimi­tro­vici tele­fonisch, dass die Wiener Gou­ver­nante angekommen sei. Silviu fragte verwundert, warum man sie nicht nach Czerno­witz einreisen ließe. „Ihre Gouvernante ist mit vier vollen Schrankkoffern, vier Hutschachteln und weiteren zwölf Koffern hier angekommen. Die Sachen müssen verzollt werden. Außer­dem sieht sie wie eine Königin aus – so etwas gibt es gar nicht bei uns!“ Silviu fuhr mit seinem Chauf­feur zur ungefähr vierzig Kilometer von Czernowitz ent­fern­ten Grenze. Über das Verhalten der Zöllner war Nora sehr ungehalten und empfing ihren zukünftigen „Arbeitgeber“ sehr kühl. Vor Silviu stand eine bildschöne, elegante Frau. Sie war 38 Jahre alt und trug zwei Silberfüchse um den Hals. Ein englisches Kostüm „haute couture“, eine Schlangenledertasche und dazu die passenden Schuhe schmiegten sich an ihren vol­lschlanken, wohl­proportio­nier­ten Körper. Die Finger glitzerten von Brillanten, und die schweren Gold­armbänder rutschten unter den Kostüm-Man­schetten hervor. Ein kleines Schleierhütchen saß neckisch auf ihrem gut frisierten Kopf. Sämtliche Koffer wurden geöffnet. Ihre fürstliche Garde­robe, Pelzmäntel, Abendkleider und eine große Schmuck­kassette versetzten alle in Er­staunen. Vater Silviu bezahlte den Zoll und nahm die Dame dann in seinem Wagen mit, während ein Zöllner ihre vielen Koffer nach Czerno­witz brachte. Er musste, um ihr ganzes Gepäck dorthin zu schaffen, mehrere Touren fahren. Ihre Ankunft und ihr Aussehen erregten Sensation im ganzen Haus. Nora interes­sierte sich zuerst für ihr Zimmer, war aber sehr erstaunt darüber, dass sie nicht ihr eigenes Bad besaß. Der dreiteilige Schrank genügte ihr natürlich auch nicht. So ent­schloss sie sich, ihre Kleidung in den vier Schrankkoffern aufzubewahren. Rondella und das Personal halfen ihr, die zwölf übrigen Koffer auszupacken. Wieder versetzten ihre Kleider alle in Er­staunen, und man fragte sich ins­geheim, wie eine Gouver­nante so reich und elegant sein könne. Dagegen sah selbst Lilly in ihrer Garde­robe stiefmütterlich aus. Rondella wurde traurig, Hilde und Zenobia begannen, unter­einander nur noch rumänisch zu reden und boykottierten ihre neue Kollegin.

Nach dem Abend­brot sprachen die Eltern mit ihr und weihten sie in ihr Programm ein. Auch die Kinder wohnten diesem Gespräch bei, bei dem folgende Festlegungen getroffen wurden: Rondella wird um sieben Uhr früh geweckt. Nach dem Waschen frühstückt sie auf ihrem Zimmer. Dann geht sie allein zur Schule. Bobby kann bis neun Uhr schlafen, um dann mit Nora um halb zehn das Frühstück ein­zu­nehmen. Zwischen zehn Uhr und halb eins mittags spielt er dann im Garten oder beschäftigt sich in seinem Zimmer mit Zeichnen und Basteln. Über diese Zeit kann Nora dann frei verfügen. Das Mittagessen wird in Rondellas Zimmer um ein Uhr serviert, wenn die Kleine aus der Schule kommt. Zwischen zwei und drei Uhr nachmittags ist Ruhepause, die Kinder werden schlafengelegt. An­schließend wird um drei Uhr ein Spazier­gang von eineinhalb Stunden im Residenz­park durch­geführt. Dort, in einem Café, wird dann die Jause zu sich genommen. Während des Spazieren­gehens soll Nora mit den Kindern ausschließ­lich Französisch sprechen, so dass sie die Sprache spielend erlernen. Anschließend macht Rondella allein ihre Schulaufgaben, und um acht Uhr abends nach dem Abendbrot werden die Kinder geduscht, Bobby geht schon um neun Uhr ins Bett; Rondella darf etwas länger aufbleiben.

Abends zog Rondella sich gleich aus und stieg un­be­fangen ins Bad. Komplizierter aber war es mit Bobby – er war an Teta gewöhnt, und sich vor einer so fremden Person gleich auszuziehen, schien ihm nicht in Ordnung zu sein. Nora bat Bobby: „Lass mich Dich ent­kleiden, Du bist jetzt mit dem Duschen an der Reihe.“ Er weigerte sich, sah sie misstrauisch an und ent­gegnete: „Du bist eine Fremde, ich schäme mich vor Dir. Aber wenn Du Dich nackt ausziehst und ins Bad steigst, tue ich es auch.“ Nora rief Lilly zur Hilfe, aber auch seine Mutter konnte Bobby nicht über­zeugen.

Die erste Nacht wurde für Nora zum Alptraum. Sie schlief bei offenem Fenster, und ungefähr um zwei Uhr nachts sprang ihr eine schwarze Katze von der Straße ins Bett. Nora schrie und weckte die ganze Familie. Man erklärte ihr, dass Katzen wegen der Mäuse notwendig seien – und darüber hinaus ganz liebe, nützliche Tiere. Als Nora von den Mäusen erfuhr, geriet sie ganz „aus dem Häuschen“. Hilde und Zenobia lachten nur darüber, Nora hingegen war ent­setzt und nahm sich vor, nie wieder „auf dem Balkan“ bei so primitiven Leuten zu landen.

Müde von der Reise und dieser ersten Nacht, stand Nora am nächsten Tag später auf. Beim ersten Spaziergang im Residenzpark stellte Rondella Nora mehrere Fragen. „Sag mir bitte, Nora, was heißt auf Französisch ‚die Heuschrecke‘?“ Sie bekam keine Antwort. „...aber ‚Frosch‘, ‚Seerose‘, ‚Schnecke‘ – weißt Du die französischen Wörter hierfür?“ Nora schwieg verschämt.

Als sie wieder zuhause ankamen, petzte Rondella diese Unkenntnisse sofort ihrer Mutter. Erbaut war Lilly über diese Erfahrungen nicht gerade, doch sie ließ sich noch etwas Zeit, bis sie mit Nora darüber sprach. Nachts musste Nora bei geschlossenem Fenster schlafen, wegen der Katzen­gefahr. Sie fühlte sich bei solcher Umstellung nicht gerade in ihrem Element. Nach einer solchen qual­vollen Nacht stand sie morgens gegen acht Uhr auf. Um etwas für ihre Gesund­heit und zu ihrer Erfrischung zu tun, besetzte sie sofort das Badezimmer. Dort fühlte sie sich auch wirklich wohl.

Das Bad war ein großer Raum, bis zur Mitte der Wände hellrosa gekachelt, darüber in dunkelrosa Ölfarbe gestrichen. Die Badewanne war tief in den Boden ein­gebaut. Ein Waschbecken, ein Bidet und eine Sitzwanne ergänzten die Ausstattung. Auch eine weiß überzogene Liege, die für Silvius Massagen notwendig war, stand dort. Zweimal in der Woche kam „Herr Fritz“ und massierte Silviu. Er hatte nämlich durch zu langes Sitzen ein recht schönes Bäuchlein angesetzt, doch weder Massagen, noch Turnen, noch die ver­schie­denen Wiener Gummipunktroller halfen dagegen. Über der Badewanne hing ein großer, dunkel­rosa Boiler, der durch Rohre aus der Küche beheizt wurde und ständig heißes Wasser abgab – für die damalige Zeit ein „Komfortwunder“. Durch ein kleines Fenster unter der Decke war das Bad mit der Veranda verbunden.

Kurz nach acht Uhr betrat also Nora jeden Morgen das Bad. Täglich aber zur gleichen Zeit musste auch Silviu das Bad benutzen, denn sein Chauffeur holte ihn um neun Uhr ab und brachte ihn ins Büro. Silviu klopfte an die Badezimmertür und bat Nora höflich, sich zu beeilen. Ihre ver­wunderte Stimme klang kategorisch. „Es tut mir leid, Herr Doktor, aber ich brauche für meine Frühtoilette eine ganze Stunde.“ Dann hörte Silviu noch, wie sie das Fenster zur Veranda öffnete, um die frische Luft einzuatmen. Eingeschüchtert klopfte Silviu noch einmal und sagte. dass er ins Amt müsse. Man erwarte ihn zu einer Sitzung um 9.30 Uhr, und dieser Termin wurde schon gestern von ihm selbst mit seinen Beamten festgelegt. „Die Sitzung können Sie, Herr Doktor, tele­fo­nisch verlegen. Sie müssen sich daran schon gewöhnen. Zwanzig Minuten turne ich. Für das Bad brauche ich ebenfalls zwanzig Minuten. Und dann bleiben mir nur noch zwanzig Minuten für meine Kosmetik.“

Hilde und Zenobia standen vor ihrem Herrn Doktor und platzten vor Wut – was sich eigentlich diese fremde Person so erlaubt! Wie ein Schelm, oder, besser gesagt, wie ein Schuljunge, verließ Silviu die Küche. Das Personal dachte, er ginge zurück ins Schlafzimmer. Sie irrten sich. Silviu eilte in die Veranda, stieg dort auf einen Stuhl und guckte, von niemandem gesehen, ins Badezimmer hinein. Rhythmisch schwang Nora ihre runden Hüften im Evaskostüm. Sekunden, die sich in Minuten verwandelten, versetzten Silviu in eine eupho­rische Morgenstimmung. Taumelnd stieg er vom Stuhl herab und verschob, wie gefordert, mit zitt­riger Stimme per Telefon seine Sitzung um einige Stunden – er fühle sich nicht so gut... Daran war nicht zu zweifeln.

So begann, langsam aber sicher, im Hause Dimi­tro­vici der Klassenkampf sich einzuschleichen. Die vereinten Kräfte des Küchenpersonals, das Hausmeisterpaar und der Chauffeur bereiteten die De­maskie­rung und Beseitigung „des Feindes“ vor.

Es war ein Tag wie jeder andere, kein bedeu­tender in der Geschichte der Arbeiter­bewegung. Im Hause Dimi­tro­vici war er aber ein Anfang zur Explosion. Nora kam mit den Kindern wie gewöhnlich vom Nachmittags­spaziergang zurück. Rondella er­ledig­te ihre Schul­aufgaben, und am Abend wurde in ihrem Zimmer vom Personal der Tisch gedeckt. Silviu, Lilly, Rondella, Bobby und die Gou­ver­nante hatten für ihre Servietten je einen silbernen Serviettenring, die Familien­mitglieder mit ein­graviertem Vornamen, die Gouvernante ohne.

Mit ge­waschenen Händen nahmen Rondella, Bobby und Nora am Tisch Platz. Um den Kindern elegante Tisch­manieren beizu­bringen, sprach Nora fast täglich dieselben Worte: „Serviette ausbreiten und auf den Schoß legen. In der rechten Hand das Messer, in der linken die Gabel halten. Suppe nie schlürfen. Alles vom Teller aufessen.“ Das Interessanteste aber war das „Haltung-Erlernen“. Man gab den Kindern unter die Arm­achseln je ein Buch, das sie während des Essens festzuhalten hatten. So wollte man verhindern, dass die Kinder während des Essens ihre Arme zu sehr ausbreiteten – was mit dieser genialen Idee auch gelang. Nun begann an diesem Tag die Katastrophe. Nora merkte zu ihrem Ent­setzen, dass ihre Serviette fehlte. Welch Glück, oberhalb des Tisches befand sich eine Lampe, von der eine Schnur mit Glocke herunterhing. Nora läutete nach Zenobia. Sie kam nicht. Nora läutete noch einmal. Ohne Erfolg. Nerven durfte Nora bei Tisch nicht zeigen, es wäre un­manier­lich, doch ihre Nervosität stieg. Rondella merkte das. Nora läutete erneut. Auch diesmal... nichts. Ohne sie durften aber die Kinder nicht mit dem Essen anfangen, und so ent­schloss sich Nora, persönlich in die Küche zu gehen. „Zenobia, Sie haben meine Ser­viette vergessen. Bitte bringen Sie sie hinein!“, orderte Nora geschwollen. Zenobia öffnete die Küchenkredenz und gab sie ihr in die Hand. Empört drehte Nora ihren Kopf weg und befahl Zenobia im Kommandoton: „Sie bringen mir die Serviette auf dem kleinen Silbertablett und folgen mir im Abstand von drei Schritten ins Kinderzimmer!“ Zenobia schmiss ihr die Serviette an den Kopf. Sie und Hilde liefen schreiend zu ihrer guten und lieben Frau Doktor. „Entweder geht die Fremde, oder wir verlassen Ihr Haus, Frau Doktor. Mit so einer unmöglichen Person können wir nicht bleiben. Sogar der Herr Doktor beugt sich ihr. Wir ertragen sie nicht länger.“ Lilly beschwichtigte sie und beschloss, nach dem Abendbrot im Herrenzimmer mit Nora zu reden.

Dank ihrer Intelligenz wusste Lilly solche Situa­tionen gut zu meistern. Sie fädelte das Gespräch geschickt ein und bat Nora, ihr Leben zu erzählen. Daraus würde man ihre Ent­wicklung und Menta­li­tät schon er­kennen.

Nora begann: „Mit achtzehn absolvierte ich die Gouver­nanten­schule. Sofort bekam ich ein Arbeitsangebot von einem Herrn Oskar Wildener. Seine Frau war bei der Geburt der Tochter gestorben. Ich nahm die Stelle an, da sich Herr Wildener in einer prekären Situation befand. Er war ein sehr, sehr reicher Jude, hatte in Wien zwanzig vierstöckige Häuser und auf dem Semmering sieben Villen. Fast in ganz Europa wickelte er Geschäfte ab und ging auf Reisen. Die Kleine hieß Ruth, und ich wurde mit der Zeit inoffiziell ihre Mutter. Von ihrer ersten Lebens­woche an habe ich sie betreut. Herr Wildener wollte nicht mehr heiraten, weil er seine geliebte Frau nicht ver­gessen konnte, und beschloss, nur für sein Töchterchen zu leben und zu arbeiten. Mich sah er wohl als Mutter seiner Tochter an, nie aber als mögliche Geliebte. Das war mir auch recht, denn äußerlich ent­sprach er nicht meinem Männerideal. Das Leben, das ich bei ihm führte, kann ich in Worten gar nicht schildern. Es war ein Eldorado. Wir be­ohnten außerhalb Wiens ein kleines Palais mit fünf­und­zwanzig Gemächern und einen Park mit Marmorsäulen. Herr Wildener hatte nichts studiert, sondern ganz klein, als Streich­holz­verkäufer auf den Straßen Wiens, begonnen. Mit seinem aus­ge­prägten Geschäftsgeist und seinem guten Herz für seine Tochter, für mich und für seine unzähligen Ange­stellten war er in den Geschäfts­kreisen sehr beliebt und ange­sehen, doch auch das konnte ihn nicht vor seinem Unglück be­wahren: Als Ruth vier Jahre alt wurde, er­krankte sie an Kinderlähmung. und sie konnte nur noch auf Krücken gehen. Wir fuhren mit ihr durch ganz Europa, sogar nach Amerika, um ihr von den besten Ärzten helfen zu lassen. Leider erfolglos – ein grausamer Schicksalsschlag für Herrn Wildener, für mich und die kleine Ruth. Das Leben ging aber weiter, und Ruth wurde ein kleines Fräulein. Wir arrangierten Abende für sie, mit Musik und Unter­haltung. Sie hatte die denkbar schönste Garde­robe und wunder­baren Schmuck bekommen, damit sie das Furcht­bare nicht so schlimm empfände. Das half aber natürlich nicht über das Leid hinweg, und viel glücklicher wurde Ruth damit nicht. Auch mir gegenüber zeigte sich Herr Wildener großzügig. Meine vollen Koffer und die Bril­lanten habe ich von ihm. In einem Depot in Wien befinden sich noch Möbel für acht Zimmer, die er mir auch geschenkt hat. Ruth wurde unter­dessen neun­zehn Jahre alt, und zu ihrem Geburtstag kamen viele Gäste. Ein junger Redakteur begann an diesem Abend, mir den Hof zu machen. Mir g­efiel er sehr gut. Öfters besuchte er uns in der fol­gen­den Zeit, und ich spürte, dass ich mich ernst­lich in ihn ver­liebte. Er war acht Jahre jünger als ich. Eine solche Verbindung wäre für die dama­lige Zeit etwas Außergewöhnliches gewesen. Uns störte es aber nicht. Ruth bemerkte unsere gegen­seitige Zu­neigung und wurde unruhig – und das nicht etwa, weil ich sie verlassen würde, um den Redak­teur zu heiraten... – etwas anderes quälte sie sehr. Wir sprachen uns aus, und unter Tränen jammerte sie, dass auch sie ihn liebte. Was sollte ich bloß tun? Eine Tragödie war zwischen uns ent­standen, und ich musste fest­stellen, wie grausam das Leben sein kann. Sollte ich bei Ruth bleiben und auf mein persönliches Glück verzichten? Oder war es besser, Ruth zu verlassen, um den jungen Mann zu heiraten? Diese Fragen quälten mich Tag und Nacht. Mir wurde klar, dass ich weder in der ersten noch in der zweiten SituationZufriedenheit finden würde. Und so ent­schloss ich mich, beide zu verlassen, weit fortzufahren... um zu vergessen, um ein neues Leben zu beginnen. Ich wandte mich an die Gouver­nanten­schule, bei der ich meine Ausbildung absolviert hatte, mit der Bitte um eine neue Stellen­vermitt­lung. In kurzer Zeit offerierten sie mir eine Stelle, die mich ansprach und die Be­din­gun­gen erfüllte, die mir in meiner Phan­tasie vor­schwebten – Czernowitz, ein weit ent­fernter Ort und, nach den aka­de­mi­schen Titeln des Familien­vaters zu urteilen, eine berühmte Familie. Mit meinen Französisch­kennt­nissen würde ich schon durch­kommen, dachte ich – doch was ich vor zwanzig Jahren gelernt hatte, ist in­zwischen aus meinem Ge­dächt­nis quasi ver­schwun­den. So kam ich in Ihr Haus, und Sie kennen jetzt mein Leben.“

Noras Erzählungen beein­druckten Lilly und Silviu. „Was tun?“, fragten sich alle drei. Schließ­lich machte Lilly einen humanen Vor­schlag. „Fräulein Frehmar, möchten Sie bei uns noch bleiben, um mir als Empfangs­dame zu helfen? Für die Kinder werden wir eine Haus­lehrerin für Französisch enga­gieren.“ Nora schaute die Familie ermuntert an – und blieb.

Am nächsten Vormittag musste Lilly das Personal aufklären. Sie erzählte Hilde und Zenobia die Ge­schich­te von Nora mit großem Pathos, damit sie Nora verständnisvoller betrachten würden. Dies gelang ihr auch, und so pendelte sich das Leben wieder ein. Nora benutzte das Bad etwas später. Silviu guckte nicht mehr zum Fenster ins Badezimmer hinein. Bobby verlor langsam sein Scham­gefühl. Katzen und Mäuse wandelten sich zu Noras lieben, süßen Tier­chen. Lilly setzte ihre Mittags-Nacktkultur ungestört fort. Rondella verlor ihre In­diskre­tion und fragte nicht mehr nach fran­zösischen Vokabeln. Und Zenobia vergaß Noras Ser­viette nie mehr. Als Empfangs­dame eignete sich Nora hervor­ragend. Kam Besuch, erwies sie die Honneurs, und die Gäste be­wunder­ten sie, bevor Lilly erschien. So brachte Nora zwei Jahre bei Familie Dimi­tro­vici zu, und die Zeit linderte ihren see­li­schen Schmerz. Wie üblich, wurde auch sie mit einem Geschenk verab­schiedet. Sie kehrte nach Wien zurück, um sich wieder bei ihrer Schule zu melden. Sie schrieb noch einige Male an Lilly und Silviu und bedankte sich für die zwei schönen Jahre in ihrem Haus. Später fuhr Nora nach Paris zu einer alten, blinden Dame, die eine Vorleserin suchte.

Bei Familie Dimi­tro­vici begann wieder die Suche. Dies­mal zog man die Kinder nicht zur Be­urteilung heran, und nach kurzer Zeit er­schien der neue „dienst­bare Geist“ – „Kind­ling“ lautete ihr Name. Ihr Inte­resse galt aus­ dem Kochen. Von Französisch keine Spur. Sie schloss Hilde und Zeno­bia sofort ins Herz und er­teilte ihnen den per­fekten Wiener Koch­kurs. Die Eltern be­hielten sie nur ein halbes Jahr und be­schlossen dann endgültig, keine Er­ziehe­rin mehr einzu­stellen.

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