Genunea und Eberhard Musculus
Arthur Schopenhauer

Kein Mensch ist so wichtig, wie er sich nimmt.
(Immanuel Kant, 1724-1804)

Ein Text von ca. 1990

Der Literat in der Wegwerfgesellschaft

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Oder: Die Wegwerfgesellschaft im Literaten

Bist Du ein Literat? Wenn ja, so gib acht: Der große Papierkorb beobachtet Dich! Beobachte auch Du den großen Papierkorb. Geliebt wird ein Werk nur dann, wenn es mit dem übereinstimmt, was der Zuhörer ohnehin schon versteht und meint (oder sollte man nicht treffender „Hörer“ sagen, oder „Mithörer“ - „meine lieben Mithörer...“, oder „Weghörer“...?). Wer sich darauf beschränkt, Koch- oder Gartenbücher, Kriminalklatsch oder Pseudoerotika zu verfassen, vermindert das Risiko, daß seine Manuskripte ungelesen im großen Papierkorb landen.

Der Papierkorb, von dem hier die Rede ist, steht nicht etwa verschämt, versteckt in einer Ecke oder unter dem Schreibtisch, sondern mitten im Raum, in dem er das einzige wirkliche, maßgebende Möbelstück ist. Auf seinem breiten Rand sitzen alle Literaten und bilden so einen riesigen Literatenzirkel. Sie schreiben, schreiben, und sie werfen die beschriebenen Blätter meistens vor sich in die Tiefe des Papierkorbes.

Von außen her versuchen immer neue Menschen, den Papierkorb zu ersteigen, um zu den Literaten hoch oben auf dem Papierkorbrand zu gelangen. Einige der Schriftsteller helfen manchen der Emporstrebenden, andere werden zurückgestoßen.

Während des Schreibens rangeln die Literaten aber auch untereinander, und manch einer unserer Kunstfreunde folgt dann seinen Manuskripten in den Papierkorb. Dessen unergründliche Tiefe ist bis heute ein Mysterium. Forscher, die nach verschollenen Manuskripten und Literaten suchen, nehmen, trotz vielfältiger Warnungen, immer wieder den Weg in den Papierkorb und verschwinden auf Nimmerwiedersehen.

Weil der Rand des Papierkorbes, auf dem die Autoren sitzen, so hoch aufragt, fühlen die Künstler sich in der Regel recht erhaben über den Rest der Welt - mit einer Ausnahme: in der Mitte des Korbes hängt, für jeden der Literaten unerreichbar weit weg, ein Stück Speck an einer langen Schnur. Immer wieder versuchen einige Verwegene trotzdem, den Speck anzuspringen - verfehlen es aber mit grausiger Regelmäßigkeit und müssen den Manuskripten, den hinuntergestoßenen Schriftstellern und den Literaturforschern folgen. Doch manchmal - man weiß nicht wie - bewegt sich der Speck auf einen der Springenden zu, freilich kaum sichtbar (man munkelt, hierbei seien außerliterarische Kräfte im Spiel). Der Glückliche ergreift die Chance beim Speck und hangelt sich, einem natürlichen Trieb folgend, an der Schnur in die Höhe. So entschwindet er allmählich den Blicken des Literatenzirkels oder aber - und das geschieht verhältnismäßig häufig, ja eigentlich immer - er rutscht das mühsam erklommene Stück wieder herab und muß von neuem beginnen. Oft reißt aber auch die allzudünne Schnur, und unter dem Gelächter der übrigen Literaten folgt der hoffnungsfrohe Künstler den Manuskripten, den hinuntergestoßenen Schriftstellern und den Literaturforschern.

Gelegentlich fühlt sich einer der Kunstfreunde von seinen Kollegen oder den von außen Empordrängenden zu sehr bedrängt und greift zu seiner einzigen Verteidigng: er hält (sofern er es schafft, zu Wort zu kommen) eine Lesung! Augenblicklich lösen sich die Kontrahenden und Nachstrebenden von ihm, weichen zurück und besetzen im Eiltempo die entfernteren Plätze. Die Begabteren flüchten sogar aus dem Raum, hinaus in Keller und angrenzende Gebäude, um zwar nichts Sensationelles zu versäumen, aber doch ungestört vor sich hindösen zu können.

Man sieht: Die Welt der Literatur und der Literaten ist ein faszinierendes Treiben! Und wenn sie nicht gestorben sind, treiben sie's noch heute...


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