Genunea und Eberhard Musculus
Arthur Schopenhauer

Unsere zivilisierte Welt
ist nur eine große
Maskerade.
(Arthur Schopenhauer)

Ein Text vom 13. Mai 1990

Im Kerker

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Seit Menschengedenken saßen zwei Männer im Kerker. Irgendwann einmal hatte man sie verhaftet und hierher gebracht. Irgendwann einmal hatte man Gericht über sie abgehalten, doch war es nie zu einem Urteilsspruch gekommen.

Einst hatte dieser Kerker als der schäbigste und strengstbewachte überhaupt gegolten. Auf jeden Häftling waren ein Kerkermeister und zwei Dutzend Wärter angesetzt. Jeder Zeitvertreib war unter Androhung sofortiger Hinrichtung verboten gewesen, und sogar Spinnen und Fliegen hatten die finsteren Verliese gemieden. Alle paar Tage hatte man den Gefangenen Futter vorgeworfen, das selbst für die Grausamsten der Mörder abscheulich gewesen sein mußte.

Die Zeit aber nahm allmählich das Altvertraute und brachte Neues. Das Gericht gab es längst nicht mehr. Die Menschen waren fort, die Häuser verfallen, der Kerker mit den zwei Eingesperrten war vergessen und der ganze Landstrich auch. Das Verlies, in dem die beiden Gefangenen saßen, hatte nur ein einzige, winziges Fenster. Das hatte schon längst keine Stäbe mehr. Rost, Feuchtigkeit und Wind hatten den einst florierenden Kerker zur Ruine gemacht. Es gab niemanden mehr, der den beiden Gefangenen etwas verbieten, aber auch niemanden, der ihnen etwas erlauben konnte. Zuerst besorgten sich die beiden Gefangenen von draußen Obst und anderes Essen, bald bauten sie neben den Resten der großen Kerkermauer Gemüse und Getreide an und angelten im Fluß. Im nahegelegenen Flußlauf wuschen sie sich täglich. Einmal wöchentlich unternahmen sie eine ausgedehnte Wanderungen, genossen die Schönheit der Natur und tauschten in anderen Orten die verschiedensten alten Dinge aus dem Kerker gegen Kleidung und Essen.

Das Leben war in den hellen Jahreszeiten recht erträglich geworden. Im den Wintern aber boten die alten Mauerreste keinen Schutz, und es gab niemanden mehr, die beiden Gefangenen von der Kerkerhaft freizusprechen und fortzuschicken.

So waren beide zum Tode durch Erfrieren verurteilt.


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