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Man führte den Verurteilten zum Schafott. Die Menge war in Feststimmung. Er schritt, umringt von den treuen Dienern der Gerichtsbarkeit, die acht hölzernen Stufen hinauf und bemerkte das Seil mit der Schlinge, lustlos herabhängend.
„Verurteile mich nicht, ich habe mir ja nichts zu schulden kommen lassen, nichts.“, zischte das Seil dem Verurteilten zu. „Ich habe niemanden umgebracht, ich nicht. Aber Du musst etwas Schlimmes getan haben, sonst wärst Du nicht hier.“
Oben angekommen, wurde der Todgeweihte recht rüde auf die bestimmte Stelle gedrängt, unter der sich ihm in einige wenigen, immer schneller dahinschmelzenden Augenblicken die Hölle öffnen würde.
„Ich kann nichts dafür, dass man Dich an mir aufhängen wird, nichts.“
Man band dem Delinquenten die Hände auf dem Rücken zusammen.
„Sei mir nicht böse, dass es Dir fast die Hände abreißt“, raunte ihm der Knoten hinter seinem Rücken zu, „ich kann nichts dafür, wirklich nichts. Ich habe ein reines Gewissen, aber endloses Mitleid mit all den schmerzenden Händen und all den unglücklichen Menschen, die ich schon ihrem nahen Ende entgegenbangen sah. Alle diese Menschen waren schuldig, und Du bist es auch. Ich aber bin unschuldig. Ich bin nur ein Knoten. Ich diene der Gesetzbarkeit, ohne Einfluss auf den Gang der Dinge.“
Plötzlich wurde es um den Verurteilten dunkel. Ruckartig hatte man ihm die letzte, dunkle Kapuze übergezogen. Die Welt war ihm aus dem Blick genommen und bestand nur noch aus dem Gejohle der Menge, dem Gestank der Straße und dem gnadenlosen Knarren des Schafotts.
„Was kann ich dafür, wenn Du nichts mehr siehst?“, meinte die Kapuze, „Du musst nun nichts mehr sehen. Du hast keine Aufgabe mehr, für die Du sehen müsstest, und dass Du noch hören und riechen kannst, ist nur meiner Unzulänglichkeit zuzuschreiben. Steh’ einfach nur da, rühre Dich nicht, das ist das Beste für Dich. Du brauchst nicht einmal mehr an etwas zu denken. Steh’ nur einfach da.“
An seinen Wangen bemerkte er sie zuerst, dann an seinem Hals. Die Schlinge war jetzt das Wichtigste in seinem restlichen Leben geworden.
„Was hast Du getan? Gib mir keine Schuld. ich werde Dich nicht töten. Ich bin nur die Schlinge und hänge an dem Seil, und das Seil hängt an dem Galgen, und der Galgen steht auf dem Schafott, und das Schafott steht auf der Straße. Und viele Menschen stehen auf der Straße und warten. Und erwarten. Ich bin nur ein kleiner Teil von allem, und habe keine Schuld, was immer auch geschehen wird.“
Plötzlich knarrte es unter seinen Füßen.
„Verzeih’ mir bitte, dass ich Deinen Füßen keinen festen Halt mehr geben kann. Der Riegel wurde gelöst und ich falle einfach nur nach unten,“ ächzte die Klappe dem Verurteilten zu, „mehr nicht. Es ist kaum etwas passiert.“
Die Menge applaudierte.
Nachbemerkung: Ohne die Lektüre von einigen Stücken des einfach großartigen Schriftstellers Victor Hugo (erwähnt sei hier nur sein Hauptwerk Les Miserables (Die Elenden)) wäre diese kleine Erzählung wahrscheinlich nicht entstanden!
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