Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

Die Freiheit der Phantasie
ist keine Flucht in das Unwirkliche,
sie ist Kühnheit und Erfindung.
(Eugène Ionesco, 1912-1994)


Diese Rezension von Genunea Musculus stammt aus der Zeit um 1983/1985. Erste Gedanken hierzu hat Genunea Musculus am 18. oder 19. Dezember 1983 schriftlich festgehalten.

Isaac Bashevis Singer - Erzähler und Romancier

Rezension des Buches „Feinde, Geschichte einer Liebe“

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Rezension
   Isaac Bashevis Singer  (►PDF)

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Es lebten ein Hund, eine Katze, ein Bauernpaar und drei Töchter in einem verlassenen, armen Dorf. Sie waren alle glücklich und kamen gut miteinander aus.

Der Hund kannte keine anderen Hunde und meinte, er sei eine Katze. Die Katze hatte auch nie eine andere Katze gesehen und hielt sich für einen Hund. Beide fraßen aus derselben Schüssel. Der Hund imitierte die Katze, er versuchte zu miauen, und die Katze bemühte sich, zu bellen.

Eines Tages aber bot ein vorbeiziehender Händler den drei Töchtern unter anderem Waren auch einen Spiegel an... und dieser zerbrach die Harmonie. Die Töchter betrachteten sich in ihm und bemerkten ihre Schönheitsfehler. Die eine hatte eine zu lange Nase und quetschte sie in alle Himmelsrichtungen. Die andere hatte das Gesicht voller Sommersprossen, und die Dritte versuchte, ihr zu spitzes Kinn durch Massagen abzurunden. Sie stritten und weinten.

Auch der Hund sah sich zu ersten Mal im Spiegel. Sein Antlitz erschreckte ihn. Er war doch keine Katze! Er fing an zu bellen und wollte den vermeintlichen Feind im Spiegel zerfleischen. Der Katze erging es ähnlich, und ein blutiger Kampf entstand zwischen den beiden vorher einander liebenden Partnern. Der Bauer und die Bäuerin verzweifelten so sehr, dass sie den Spiegel dem Händler zurückbrachten. Frieden trat wieder ein in das kleine Haus. Die Tiere schmusten miteinander; der Hund dachte, er sei eine Katze, und die Katze betrachtete sich als Hund. Die Töchter bekamen trotz ihrer physischen Fehler gute Männer, und der Vater segnete sie mit den Worten "Ein gläserner Spiegel zeigt nur das Äußere der Menschen - die Seele aber erkennt man an der Bereitschaft, anderen Menschen zu helfen."

Der Autor dieser Geschichte, Isaac Bashevis Singer, hat Hilfsbereitschaft und seine Lebensphilosophie auch im Roman "Feinde, die Geschichte einer Liebe" prägnant dargestellt.

1904 in Radzymin, Polen, geboren, wanderte er 1935 nach New York aus. Für sein gesamtes Werk wird er 1978 mit dem Nobel-Preis für Literatur ausgezeichnet.

Herman Broder, der Protagonist seines Romans "Feinde, die Geschichte einer Liebe", stammt aus einer alten Rabbinerfamilie. Herman arbeitet als Journalist, geht mit Tamara eine "Vernunftehe" ein und hat mit ihr zwei Kinder. Jadwiga, die junge Polin, sorgt für das Wohlergehen der Familie. Sie kocht, räumt auf, hält Haus und Hof in Ordnung.

Die Deutschen fallen in Polen ein, der Zweite Weltkrieg hat begonnen. Jadwiga versteckt Herman auf dem Boden Ihres Elternhauses und rettet ihn vor den deutschen Nazis. Drei Jahre lag versorgt sie ihn insgeheim und beschützt ihn vor den Dämonen dieser Zeit. Ängste, Todesgedanken und die Sinnlosigkeit seines Lebens quälen Herman Tag und Nacht.

1945 erlebt er seine Befreiung und erfährt von einem Augenzeugen, dass seine Frau Tamara und die Kinder erschossen worden sind. Herman heiratet aus Dankbarkeit Jadwiga und flüchtet mit ihr über Deutschland nach Amerika. Seine Ängste, seine Alpträume und seine Verzweiflung folgen ihm ins freie Land. Dort arbeitet er für Rabbi Lampert, bereitet ihm seine Artikel und Vorträge vor und verkauft verschiedene Bücher in einem kleinen Laden. Jadwiga, seine Frau, bleibt im Schatten. Rabbi Lampert konnte nicht verstehen und ihm verzeihen, dass er eine Nichtjüdin geheiratet hatte. So entsteht die erste Lüge, und Herman kämpft mit ihr, mit Jadwiga, mit Rabbi Lampert und mit sich selbst. Jadwiga hängt an ihm mit der Ergebenheit eines treuen Hundes. Seine Monologe, seine Fragen, Befürchtungen und Zweifel können von der guten Bäuerin nur phonetisch aufgenommen werden. Sie singt für ihn polnische Volkslieder, kocht ihm jüdische Gerichte und wartet täglich auf seine Rückkehr aus der Stadt. Allein kann sie nichts unternehmen, New York bleibt für sie der fremde, gefürchtete Koloss.

Endlich erscheint Mascha, eine charmante, elegante, exaltierte, aber nervlich kranke Frau. Auch sie hat unmenschliche Erfahrungen mit dem deutschen Faschismus im Konzentrationslager machen müssen. Die Leidenschaft entfesselt eine Liebe… und die Lüge fängt Herman aufs Neue ein. Öfter muss er von Jadwiga fort, fehlt Tage und Nächte und kann ohne Mascha nicht mehr existieren. Aber auch bei ihr fühlt er sich nicht immer glücklich. Mascha ist zynisch, sie beleidigt ihn ständig, weil er seine Bäuerin nicht verlassen will. Herman erträgt ihr kompliziertes Wesen und erduldet ihre hysterischen Anfälle. Doch beide haben die gleiche Vergangenheit, den gleichen Hitlerfaschismus erlebt. Das verbindet sie.

Als wenn Hermans Doppelleben noch nicht verzwickt genug wäre, muss der gejagte Notlügner von Rabbi Lampert erfahren, dass seine Frau Tamara lebt und ihn in New York sucht.

Eine gebrochene Frau steht vor ihm. Die zwei Kinder wurden vor ihren Augen erschossen; sie selbst traf die Kugel, aber verletzte sie nur. Eine polnische Familie nahm sie auf und versorgte sie bis zum Ende des Krieges. Tamara versteht Herman und seine prekäre Situation, bleibt seine Anvertraute und Freundin. Neue Lügen gegenüber Jadwiga und Mascha erdrücken Herman; er ist unfähig, eine Entscheidung zu fällen. Liebe ist nicht nur Leidenschaft, sondern auch Anständigkeit. Weiterhin muss er auf die Wahrheit verzichten, um die ihm lieben Menschen zu behalten. Nicht nur diese Gedanken bedrücken ihn - nein - sein ganzes Sein ist geprägt durch die drei Jahre, die er auf dem Heuboden verbracht hat. Auch in Freiheit sieht er die Tragik des Lebens - "Ein Hitler ist gestorben, eine Million nehmen seinen Platz ein." - "Es wird immer Kriege geben, Pogrome gegen die Juden, und die Katze wird immer nach der Maus jagen und sie fressen." Er zweifelt an seinem Glauben, zweifelt an Gott. Wer nicht den Mut hat, sich zu töten, muss entweder süchtig werden oder sich auf einem Heuboden verstecken, um in dieser Welt leben zu können. Seine gequälte Seele und sein zermürbter Intellekt finden keine Ruhe, und seine Fragen kann niemand beantworten.

Jadwiga wird schwanger - ein Ereignis, das nur sie selbst freut.

Herman will mit Mascha fliehen, ein neues Leben beginnen. Im letzten Augenblick aber überlegt sich Mascha diese Entscheidung und ruft ihm zu: "Geh' zu Deiner Bäuerin, verlasse nicht Den Kind." "Ich werde alle verlassen", erwidert Herman und verschwindet...

Mascha nimmt sich das Leben, Tamara zieht mit Jadwiga und ihrem Baby in eine gemeinsame Wohnung. Wo Herman geblieben ist, bleibt für uns genauso unergründlich wie für ihn sein fragwürdiges Leben.

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Issac Bashevis Singer ist nicht nur ein großer Schriftsteller, er ist Lebensforscher, Denker und Psychoanalytiker. Seine Aussagen sind emotional und intellektuell fundiert. Er schreibt klar, die kompliziertesten philosophischen Zusammenhänge einfach und für jedermann verständlich. Er ist ein hervorragender Erzähler ohne Pathos und fesselt seine Lese Seite für Seite - eine besondere Begabung, die man vielen jüdischen Autoren zuschreiben kann. Ähnlich Fjodor Michailowitsch Dostojewski bereichert Singer den psychologischen Roman, beeinflusst von naturalistischen, expressionistischen und existentialistischen Strömungen. Obwohl er glücklicherweise den Hitlerfaschismus nicht erlebt hat, ist sein Held, Herman Broder, das Ergebnis dieses mörderischen Regimes. Er sucht das Gute, stößt auf das Böse, wird Pessimist. Er bleibt der Sklave seiner Vergangenheit, und seine Wunden heilen nicht. Herman ist ein Lügner, muss es bleiben; er wird polygam, musste es werden - trotzdem handelt er aus seiner Sicht moralisch.



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