Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

über Menschen und Tiere werde ich
Euch erzählen, die mir als
Persönlichkeiten begegnet sind...
Genunea Musculus

Episode aus dem Roman „Genunea. Czerno­witz liegt nicht nur in der Buko­wina“

Luise und Victor Ulrich

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So stand Nuni auf der Wall­straße vor dem Hause Nr. 23, einem einstöckigen hellen Haus mit einem kleinen braunen Holz­balkon. Die Fenster­vorhänge waren aus weißem Tüll mit vielen Rüschen ge­arbeitet. Am dunkelgestrichenen eisernen Tor stand der Name, „Victor Ulrich“. Erst wollte Nuni läuten. Dann aber drückte sie ihre durch­frorene Hand auf die eiserne Klinke, die nach­gab und das Tor auf­springen ließ. Die Holz­treppe, die im Gegen­satz zur geräuschlosen Kloster­treppe laut knarrte, wies ihr den Weg hinauf zur Familie Ulrich. Sanfte Augen trafen auf Nunis flehende Blicke, als die Tür von einer etwa 45-jähr­igen Frau ge­öffnet wurde.

„Verzeihung, dass ich Sie störe, gnädige Frau. Wir sind Flüchtlinge aus Rumänien. Hätten Sie für meinen Mann und mich ein möbliertes Zimmer zu ver­mieten? Ich wäre Ihnen dafür sehr dankbar.“

„Kommen Sie doch bitte herein, mein Kind“, und Nuni bemerkte mit freudiger Er­leich­terung, wie sich der Gesichts­ausdruck der noch Un­bekann­ten veränderte, gütiger wurde. Frau Ulrich führte Nuni ins Speise­zimmer, und plötzlich rief Nuni erstaunt und glücklich: „Es sind ja die gleichen Möbel, wie wir sie zuhause hatten!“ – hohe, braune, gepolsterte Leder­stühle mit vielen kleinen Goldnägelchen beschlagen, die rote Samt­decke, darauf in der Tisch­mitte ein kleines, weißes, rundes Spitzen­deckchen und eine „Rosenthal“-Vase. Links und rechts davon standen die zwei massiven Kredenzen, eine kleiner, eine größer... alles wie zuhause in Czerno­witz! Nur der Samowar, der im Czerno­witzer Speise­zimmer auf dem Servier­tisch strahlte, strahlte Nuni hier nicht an. Hin­gegen ver­spürte sie den an­ge­nehmen tra­ditio­nellen, weih­nacht­lichen Duft der Pfeffer­kuchen und Tannen­zweige.

„Der liebe Gott hat Sie mir ge­schickt! Erst gestern hörte ich von dem Unglück der Ver­triebenen aus Czerno­witz“, erzählte Frau Ulrich der erwartungsvollen, frohen Nuni, „und ich wünschte mir, diesen armen Men­schen irgendwie helfen zu dürfen. Dafür habe ich Abend für Abend gebetet, und nun stehen Sie heute vor meiner Tür! Natürlich werden Sie bei uns bleiben. Das Zimmer, das ich Ihnen zur Verfügung stellen kann, ist zwar nicht sehr groß, aber wo Liebe und Gott wohnen, ist auch für Sie beide Platz.“ Nuni sprang auf und küsste Frau Ulrich. „Nicht mir müssen Sie danken – Gott half Ihnen, mein Kind“, meinte sie völlig über­zeugt.

Schon nach drei Tagen waren Nuni und Willy in ihr neues kleines Palais umgezogen. Hier fehlte es ihnen an nichts. Hier konnten sie nach vier langen Monaten Lager­leben ungestört ihre Flitter­wochen entfalten. Von der Stadtverwaltung bekamen sie ihre Bettwäsche­bezugs­scheine, Kleider- und Lebens­mittel­marken, von Familie Ulrich Liebe und Gottes Segen. Nuni wollte ihre Talente prüfen, ob sie überhaupt welche besäße, und fing sogleich mit dem Kochen an – mit dem sparsamen Kochen. Es mussten 100 Gramm Hack­fleisch für zwei Personen eine ganze Woche lang ausreichen. „Gekonnt, wie...“, lächelte Frau Ulrich, und dann geschah das „Wunder“: Aus dieser Fleisch­quanti­tät fabrizierte sie acht Bou­letten mit fünf eingeweichten Bröt­chen, vielen Zwiebeln, mit einer Messer­spitze Ei­pulver und einem subtilen, fast un­spür­baren Fleisch­aroma. Dazu wurde ein großer Topf mit Kartoffeln aufgesetzt, und so reichte die Abfüt­terungs­tragi­komödie reichlich aus. Rührend be­wachte Frau Ulrich das Küchen- und Koch­verhalten von Nuni, und als sie deren Schwierig­keiten wahr­nahm, begann sie mit dem Unterricht.

Die allererste und wichtigste Lektion bestand im Kartoffel­kochen, denn eine große Lebens­mittel­auswahl gab es ohnehin nicht. Nuni wollte die „raren Früch­te“ fachgemäß, so wie sie es im Lager bei­gebracht bekommen hatte, abschälen, dünn abschälen, als sie nun aber etwas Neues hinzu­lernen musste: Frau Ulrich erklärte ihr nämlich, dass unter den Schalen viele liebe Vita­mine lebten. Amü­siert be­trachtete Nuni auch die große, zweizinkige Gabel, die nach ungefähr zwanzig Minuten Kartoffel­kochzeit vorsichtig in eine Kar­toffel eingestochen wurde. Geht diese Prozedur leicht vonstatten, bedeutet es, dass die Kartoffeln gar sind. Sollte die zu diesem Zweck erfundene Gabel aber einen Wider­stand seitens der Kar­toffeln verspüren, müssen sie noch ein paar Minuten im kochenden Wasser sprudeln.

Aber nicht nur im Kochen näherten sich die beiden guten Wesen an, sie verspürten Dankbar­keit und Zu­neigung für­einander – Frau Ulrich auf ihre ethisch-religiöse Weise – Nuni, einfach glücklich, hier in der Fremde eine „Ersatzmutter“ gefunden zu haben, die ihrem Herzen schon immer gefehlt hatte.

Victor Ulrich bezog nach lang­jähriger Post­beamten­tätigkeit seine wohlverdiente Pension. Seinem Aussehen nach zu urteilen, konnte man leicht den korrekten und gewissen­haften Staats­beamten erkennen. Er lachte fast nie, obwohl sein Mund, in dessen Ecke immer eine dicke Zigarre puffte, einen leicht verschmitzten Ausdruck hatte. Öfters kam er zu seiner Frau Luise in die Küche, um an den Kochtöpfen zu schnuppern. Nuni schien ihm trotz seines zurück­haltenden Wesens sympathisch.

Das Leben der vier Einwohner in der Wall­straße 23 gestaltete sich in Harmo­nie und Zu­ver­sicht. So schlug Frau Ulrich eines Tages ihrer Nuni das „Du“ vor und bat sie, sie von nun an „Tante Luise“ zu nennen. Dann begann sie ihr zu erzählen: „Schau, meine liebe Nunica, durch Eure Anwesen­heit hat mein Leben einen Sinn be­kommen. Gott gab mir die Aufgabe, zu helfen, und Du wurdest mir von ihm geschickt. So erfülle ich seine Wünsche und komme ihm näher.“

Gerührt lauschte Nuni ihr und konnte sich für all das Gute, das Tante Luise ihr gab, nur mit Liebe und Ver­ständnis erkenntlich zeigen. Manch­mal beschlich sie das un­behagliche Gefühl, das wäre zu wenig, doch was sollte sie ihrer so guten Fee außer ihren auf­richtigen Gefühlen schenken? Die meisten Abende verbrachte man zusammen. Krieg und Nazismus war wohl nicht gerade das Wahre für die beiden an­ständi­gen Ulrichs, und so begann Nuni dann auch, über ihr junges Leben zu berichten, immer humor­voll und ironisch.

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