Genunea und Eberhard Musculus
Bild: Genunea Musculus

Man sieht, wie schwer das Leben ist,
denn man bekommt soviele Hinweise,
wie man es besser meistern kann -
bis man davon erlöst ist! Für immer!.
(Genunea Musculus, 15.04.1984)

Ein Text aus den Jahren um 1976/1978

Erkenntnisse, Erkenntnisse - oder: Wir arme Affen

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Genunea Musculus:
Erzählung „Erkenntnisse, Erkenntnisse“

(publiziert bei · published by
 „BookRix“)
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1975 - Endlich in Berlin (West)! Nach zwanzigjähriger Wartezeit habe ich mich vom Sozialismus und seinen „Errungenschaften“ befreit und genieße hier die West-Berliner Freiheiten... Freiheiten mit all' ihren Vor- und Nachteilen - Freiheiten, die zu Kuriositäten führen. Trotz meiner besonderen rumänisch-griechisch-deutschen Chromosomenkonstellation, die im Marienfelder Umsiedlerlager genetisch und ethnisch gründlich überprüft wurde, habe ich zum Glück das Privileg, als Deutsche anerkannt zu werden. Ich bekomme einen Berliner Ausweis, eine Einbürgerungsurkunde, einen Wohnberechtigungsschein, Renten und Krankenversicherung und bald einen „offiziellen“ Totenschein.

Ich bin arrangiert... es passiert mir und mit mir nichts mehr. Erleichtert und fröhlich suche ich nach Sensationen, ich will lachen, viel lachen. Suche Freunde... wir diskutieren, politisieren, diskriminieren, kritisieren - aber lachen nicht, lachen nie.

Die Presse - genau so langweilig: Morde, Drogen, Bankeinbrüche, Entführungen, Finanzaffären, keine pikanten Liebesgeschichten, kein Idealismus, kein Humor.

Der Wohlstand blüht, das Lachen und der Elan schlafen ein. Wir entfremden uns voneinander und finden nicht einmal mehr zu uns selbst.

So taumeln wir leblos im Chaos der irdischen Güter dahin. Was dagegen tun? Eureka! Wir stürzen uns mit unsere noch vorhandenen Energie auf die Psyche - das unsichtbare Ich. Die Psyche ist an allem Schuld!

Für uns werden Psychiater, Seelsorger und Soziologen gezeugt, erzogen und umerzogen. Wir streben nach Originalität und wollen alles Neue, alles Fremdartige mit diesem großen Weisheitslöffel schöpfen: amerikanische Jeans und Kaugummi, rumänische Blusen, mexikanische Hüte, Federn statt Haare, indische Düfte, internationales Porno-Business, hermetisch-primitive Literatur („da-da-ba-ba-ka-ka...“), diffuse Plastiken und Fleckenmalerei (siehe Kudamm-Eck), Dschungelmusik, Bauchtanz, reizvolle Medaillons: Statt Brillanten Bohnen, und Diamanten in der Nase.

Wir flirten ceylonesisch, beten buddhistisch, essen chinesisch, heiraten muselmanisch, musizieren afrikanisch, tanzen spanisch und sprechen ein Kolonialdeutsch.

Um unser weiteres geistiges Niveau zu steigern, gründen wir Schulen, eine Art von Vereinen, deren Fundament die mystische indische Philosophie und die transzendentale Meditation sind. Es gibt aber auch Schulen der Gefühle, der Berührungen, des Schweigens und viele andere.

Das Leitwort „Erkenne Dich selbst“ vom alten Sokrates ist der Grundsatz dieser Vereine. Wir stellen fest, dass durch ein konzentriertes denken an ein Glied oder Organ unseres Körpers eine absolute Ruhe entsteht und zu unserer innerlichen Auflösung führt. In einem großen Raum mit vielen Kerzen und Räucherstäbchen wird die psychoanalytische Metamorphose bis zu unserer totalen Beneblung durchgeführt. Mit geschlossenen Augen beginnen wir das chronologische Denken. Das ausgewählte Organ ist unser Finger - zum Beispiel der Zeigefinger: er gehört zu uns, wir brauchen ihn, um zu leben, er ist lang oder kurz, dick, krumm, sein Nagel ist braun, grün, weiß, rot oder lila lackiert. Dann denken wir an seine Funktionen in unserem sozialen, politischen und erotischen Leben. Er droht, er verkündet, er befiehlt, er warnt, er zeigt, er dementiert, er kratzt, er kitzelt, er wird gelutscht; wir lieben ihn.

Natürlich dürfen wir an alle Organe denken: an die Lippen, an die Nase, Zunge, an den Blinddarm, an die große Zehe vom linken Fuß, an den Pankreas etc. etc.

Das sind Erkenntnisse... Erkenntnisse...

Eine andere Schule ist die Schule des Schweigens: wir versammeln uns, ohne ein Wort zu reden. Nur durch das Ansehen Pupille in Pupille kommen wir uns näher... die Sprache wurde uns sowieso nur gegeben, um unsere Gedanken zu verstecken.



Wir armen Affen...

Die Schule der Berührungen: wir betasten die Haut unseres Partners an bauch, Armen, Nacken, Nase und fühlen uns dabei freier, erleichterter. Freud hätte diese Schule als Sex-Spiel-Schule bezeichnet, aber über Thesen und Antithesen wollen wir uns hier nicht streiten...

Es sind eben nur Erkenntnisse... Erkenntnisse...

Die indische Schule: eine introvertierte Bauchflatterhöschentänzerin erreicht durch das Schwingen ihrer Beine im transzendentalen Rhythmus eine Tiefenwirkung der meditierenden Anthroposophen. Die wird hervorgerufen dank der indischen Düfte, die aus ihren Plunderdessous herausschlüpfen.

Oh, wir armen Affen...

Nach diesem wertvollen Resumée möchte ich auch ein paar eigene Ideen vorschlagen: Warum sollen wir nicht dem Exempel der Tiere folgen? Sie sind noch sauber, frei, ohne Vorurteile und können ohne Scham und Komplexe mit Hilfe des Geruchssinns ihren Instinkten nachgehen. Sind wir eigentlich nicht auch Tiere? Verlassene Tiere in unserer verdrehten Welt der Umwertung der Werte... und die Annäherung zwischen uns armen Menschen ist so schwer zu erreichen!

Unsere Nase ist diesmal das besungene Organ. Durch den Geruch, wie in der Tierwelt, erkennen wir uns, wir finden zu uns. Jeder Mensch hat einen eigenen Geruch... einen süßen oder einen bitteren, einen verschimmelten, einen parfümierten, er riecht nach Heu, Staub, Flieder, er hat einen sauren Geruch, er riecht nach Schnee, er hat einen Leichengeruch, einen Veilchengeruch, er riecht nach Schweiß und vielem anderen.

Das Verfahren ist einfach: wir dürfen uns zur Begrüßung nicht mehr die Hände reichen. Dem Partner nähern wir uns durch Schwingen der Nasenflügel oder Beschnupperung in den diversen Teilen der Körper, bis wir ihn nach unserem Geschmack finden. Zwei Menschen treffen sich - der eine mit einem süßen Geruch und der andere mit Staubgeruch. Es entsteht die perfekte Symbiose, denn zuviel Süßigkeit provoziert Ekel, und zuviel Staub erstickt einen. Perversitäten gibt es natürlich auch - so ist das Leben: wenn einer mit saurem Geruch nach einem anderen mit Leichengeruch läuft, ist diese Kombination nicht gerade optimal. Ein saurer Toter wäre jedoch unerträglich.

Das sind meine Erkenntnisse... Erkenntnisse...

Ich hoffe, dass ich mich genügend schnell in diese für mich so neue neuro-psychische Syndromgesellschaft integriert habe und mit meinem Novum einen frischen Strom der Anomalie in das Berliner Kulturleben eingeführt habe. Versucht aber nicht nur das Außergewöhnliche, das Fremdartige und weitere geistige Funken mit diesem Löffel zu schöpfen. Ihr seht die Gefahr: Löcher, Löcher - wir arme Affen. Trotzdem bitte lachen! Und so bleibe ich auch Eure fröhliche Pessimistin.



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